Wir schenken Leben

Tierethik & Veganismus · May 15, 2021

Einleitung

Das erste antivegane Argument, das mir geschickt wurde und das ich mal mit euch durchgehen werde, lässt sich so formulieren:

Wenn wir keine Kühe, Schweine und Hühner, wenn wir auch sonst keine tierischen Lebensmittel verzehren würden, dann würden diese Tiere gar nicht erst existieren.

Das Argument, das hier gemacht werden soll, lautet daher:
Wir tun den Tieren eigentlich einen Gefallen damit, dass wir sie essen. So schenken wir ihnen wenigstens das Leben.

Dieses Argument ist keineswegs neu, sondern ist seit weit über 100 Jahren verbreitet. Besonders bekannt ist die Formulierung des Historikers Leslie Stephen (1832-1904):

„Von allen Argumenten für den Vegetarismus ist keines so schwach wie das Argument der Humanität. Das Schwein hat ein stärkeres Interesse an der Nachfrage nach Speck als irgend jemand sonst. Wären alle Juden, gäbe es überhaupt keine Schweine.“

(Übersetzung nach Peter Singer, Praktische Ethik (2. Auflage, S. 160), ursprünglich in: The Popular Science Monthly, Band 44, 1894, S. 229.)

Zugegeben: Dieses Argument erscheint derartig zynisch, derartig eklig, dass es schwer fällt, es überhaupt ernst zu nehmen, aber eine gelassene Analyse kann durchaus interessante Überlegungen hervorbringen. Ich werde daher nicht nur einen einzigen Punkt gegen dieses Argument formulieren, sondern gleich mehrere.

Die Gegenargumente

1.) Wer dieses Argument macht, gibt zu verstehen, dass er Tieren ein Leben gönnt, dass das Leben für Tiere ein Geschenk ist. Wenn das jedoch der Fall ist: Unsere gegenwärtige Form der Tierausbeutung ist ein Haupttreiber des Artensterbens und trägt massiv zur Vernichtung des Wildlebens bei. Was ist also mit dem Leben, das die ‚Nutztier‘-Haltung vernichtet?
(Dieses Argument ist eher schwach, da nicht jede Form der ‚Nutztier‘-Haltung Wildtiere vertreiben muss. Außerdem lädt es zu sinnlosen Diskussionen darüber ein, ob unsere Essgewohnheiten nicht mehr ‚Nutztieren‘ das Leben ‚schenken‘ als sonst Wildtiere da wären.)

2.) Wir treiben im menschlichen Bereich Kinder ab, bei denen wir davon ausgehen, dass sie ein leidvolles Leben erdulden müssten, ja wir treiben sogar regelmäßig Kinder mit Trisomie 21 ab, obwohl diese Menschen oft sehr glückliche Leben führen. Parallel behaupten wir aber, dass wir Tieren ein Leben schenken, obwohl die Haltungsbedingungen in der Regel grauenhaft sind? (Auch der Verweis auf diesen offenkundigen Doppelstandard ist eher ungünstig, da nicht jede Haltung zu schlechten, leidvollen Leben führt.)

3.) Wer dieses Argument formuliert und damit eigentlich nur sagen möchte, dass diese Tiere weiterhin existieren sollten, hat damit noch keine Rechtfertigung für das Ausbeuten vorgelegt. Wenn die betroffenen Tiere bzw. wenn bestimmte Zuchtformen weiterhin existieren sollen, dann ließen sie sich schließlich auch erhalten, ohne dass man sie ausbeutet (schlachtet usw.).

4.) Würden wir diese Logik akzeptieren, wenn es um etwas geht, das wir abstoßend finden? Angenommen, man würde Hunde nur für Hundekämpfe züchten. Würden wir da Hundekämpfe damit rechtfertigen, dass es die Hunde sonst gar nicht erst geben würde? (Dieses Argument wird häufig dazu führen, dass darauf hingewiesen wird, dass dieser Vergleich doch unfair sei. Schließlich diene die ‚Nutztier‘-Haltung unserer Ernährung, während Hundekämpfe nur widerliches Vergnügen seien. Siehe dazu 5.)

5.) Wir gehen für gewöhnlich davon aus, dass unsere Freiheit dort endet, wo unsere Handlungen andere betreffen. Sobald das der Fall ist, entsteht Rechtfertigungsbedarf. Um in solchen Konfliktsituationen entscheiden zu können, welche Handlung die richtige ist, fragen wir uns, welches Gewicht die involvierten Interessen haben. So betrachten wir es als unstatthaft, eine Person für Geld zu töten, halten es aber für gerechtfertigt, wenn sich nur auf diese Weise Geiseln retten lassen.

Das Interesse, dem wir für gewöhnlich die größte Bedeutung zusprechen, ist das Interesse am Leben. Erst dann, wenn das Leid wirklich enorme Ausmaße annimmt, tendieren wir oft dazu, den Tod zu präferieren. Unser erster Impuls ist es jedoch allgemein, dass wir versuchen, menschliches Leben zu erhalten. Da wir dies auch bei Kleinkindern und Schwerstbehinderten, die keine Vorstellung von Leben und Tod, die keine Pläne für die Zukunft haben, so handhaben, gibt es keinen belastbaren Grund, Tieren nicht ebenfalls ein Interesse am Leben zuzusprechen. Diese Haltung deckt sich auch mit einem Gerichtsurteil, das zu diesem Ergebnis kam:

„Der mit dem schwersten Schaden verbundene Eingriff ist die Tötung eines Tieres.“

(Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 18.06.1997, 6 C 5/96)

Wenn dem Interesse am Leben das größte Gewicht zuzusprechen ist, dann könnte dieses Interesse höchstens dann legitimerweise absichtlich verletzt werden, wenn es auch bei uns um unser Interesse am Leben ginge. Dies ist offenkundig nicht der Fall, da wir auch ohne den Verzehr von Tierischem überleben können. Es geht bei uns also um ein Interesse, dem weniger Gewicht zuzusprechen ist.

Nun muss allerdings nicht jede Form der Tiernutzung mit dem Schlachten verbunden sein, auch wenn es real kaum vorkommt, dass Eier und Milch ohne Tötungen gewonnen werden. In diesem Fall ginge es dann nicht mehr um das Interesse am Leben, sondern um andere Interessen. Die nächste Möglichkeit, Interessen zu gewichten, stellt die Unterscheidung zwischen „Bedürfnis“ und „Begehren“ dar.

Bedürfnisse sind die Interessen, deren Befriedigung überlebensnotwendig ist. Wir bedürfen also Nahrung, um überleben zu können. Begehren sind hingegen die Interessen, die mit „nice to have“ passend umschrieben sind. Ihre Befriedigung ist angenehm, aber nicht lebensnotwendig. Das Gucken eines Filmes wäre ein passendes Beispiel. Es sollte offensichtlich sein, dass das Verletzen von Bedürfnissen zur Befriedigung von Begehren unstatthaft ist.

Da wir im Normalfall ohne Tierisches auskommen, kann der Verzehr von Tierischem bei uns im Normalfall auch nur ein Begehren darstellen. Die Haltung von Tieren führt jedoch zwangsweise früher oder später dazu, dass Bedürfnisse, zum Beispiel durch Krankheiten, verletzt werden. Es müsste also ein echtes Bedürfnis beim Menschen vorliegen, um die Haltung von Kühen oder Hühnern zu rechtfertigen. Dies ist, wie gesagt, üblicherweise nicht der Fall.

6.) Es ist vollkommen unklar, warum aus der Handlung, Leben zu schenken, der Freibrief folgen sollte, Leben zu nehmen. Es folgt logisch schlicht nicht. Und: Ergibt sich aus dem Erzeugen eines Lebewesens nicht viel eher Verantwortung statt eine Ausbeutungserlaubnis? Letztlich ließe sich diese Logik auch auf unsere Kinder oder auf unsere Haustiere anwenden, denn schließlich wären sie ohne uns gar nicht da. Ein Freibrief, sie nach Belieben auch wieder zu töten?

7.) Es ist durchaus ironisch, das Leben-Geben als ein Geschenk zu betrachten, dann aber zu meinen, es sei kein Schaden oder zumindest in Ordnung, es auch wieder zu beenden. Wenn das Leben ein Geschenk ist, dann sollte es doch wohl auch ausgekostet werden können?

8.) Die größte logische ‚Macke‘ dieses Arguments ist darin zu erblicken, dass so getan wird, als würde man den Tieren einen Gefallen damit tun, dass sie leben können. Es gibt jedoch nirgends nicht-existierende Wesen, die nur darauf warten, endlich gezeugt zu werden. Wer ist hier also der Geschenkempfänger, wenn niemand da ist, der ein Interesse daran hat, geboren zu werden? Wer nicht existiert, hat auch keine Interessen, die man verletzen oder befriedigen könnte. Niemand leidet darunter, nicht geboren zu werden.

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