Viraler Antiveganismus

Tierethik & Veganismus · October 24, 2022

1. Vorbemerkungen

Im April dieses Jahres erschien in der Süddeutschen Zeitung ein Artikel, der aufgrund seines provokativen, ja vielleicht absurd anmutenden Charakters die Gemüter erhitzte, unglaubliche Verbreitung fand und dutzende Antworten nach sich zog. Der Titel mag ein ausreichender Hinweis darauf sein, warum: „Wer Tiere liebt, sollte sie essen“ [1].

Der Artikel fand im August noch einmal unerwartete Aufmerksamkeit, als der aufrufstarke Podcast von Markus Lanz und Richard David Precht das Thema Tierwohl aufgriff [2]. Lanz versuchte in dieser Episode wiederholt, Precht zu einer Reaktion auf das Problem zu bewegen, das von dem Artikel aufgeworfen wurde. Prechts Verweigerungshaltung, etwas Anderes als eine ausweichende Antwort zu geben, stand symbolisch für die allgemeinen Reaktionen auf den Artikel, sodass die Autorin in einem Nachtrag beklagte, dass ihr eigentlicher Punkt weitestgehend unbeachtet blieb [3]. Bedauerlicherweise schob auch die Replik, die diesen Fehler nicht beging, der Autorin Christina Berndt etwas unter, wozu sie sich überhaupt nicht bekannt hatte. ([4], vgl. dort den Abschnitt „Gesetze und die Würde des Menschen und der Tiere“)

Um der von der Autorin erhobenen Klage, dass ihre Position nicht angemessen wiedergegeben und behandelt worden sei, den Boden zu entziehen, wird die folgende Analyse den Text Abschnitt für Abschnitt chronologisch besprechen; die Autorin wird also, in ihrem Interesse, nicht paraphrasiert, und es werden nicht nur Ausschnitte aus dem Gesamttext herausgerissen und analysiert. Cherry-Picking- und Verzerrungsvorwürfe erübrigen sich, da sie stets selbst zu Wort kommt; es ist stets direkt möglich, zu sehen, ob ihr etwas in den Mund gelegt wurde.

Zudem geht die folgende Analyse deutlich über das hinaus, was nötig wäre, um das zentrale Defizit der vorgestellten Position aufzuzeigen. Sie will herausarbeiten, wo sich überall kritisch ansetzen ließe, worauf auch fernab des entscheidenden Punktes geachtet werden kann und welche Fragen ergänzend zu stellen wären.

Vor dem Hintergrund, dass der Artikel der Süddeutschen zahlreiche Antworten provoziert hat, versteht es sich von selbst, dass von der nachstehenden Betrachtung eine Wiederholung bestimmter Einwände erwartet wird, da sie sonst immer und immer wieder formuliert wurden. Es sei daher darauf hingewiesen, dass zahlreiche bisher veröffentlichte Kritikpunkte zu verwerfen waren, da sie ‚über das Ziel hinausschossen‘ und als ‚unfair‘ einzustufen sind. Ihre Abwesenheit ist folglich nicht das Ergebnis einer lückenhaften Kritik.

Wer der folgenden Analyse Anregungen entnehmen konnte und die Entstehung solcher umfassenden, zeitintensiven Arbeiten unterstützen will, findet hier eine Möglichkeit.

PDF-Version hier.

2. Grundlagen der Analyse

Christina Berndt möchte mit ihrem Artikel einen Beitrag zur ethischen Debatte rund um das Thema Fleischverzicht und Veganismus leisten, da sie davon auszugehen scheint, dass wenigstens ein Blickwinkel zu wenig Berücksichtigung fände. Auch wenn sie dieses Ziel nicht explizit ausformuliert hat, ist es ihrem Text und dem dazugehörigen Nachtrag zumindest so klar zu entnehmen, dass man es ihr ohne gewichtige Bedenken zusprechen kann. Wer sich auf Klassiker der Philosophie und auf ethische Beiträge der Gegenwart bezieht, wird sich schwerlich darauf berufen können, dass man es mit dem Anspruch doch nicht so genau zu nehmen habe.

Nun ergibt sich aus dieser Zielsetzung indes, dass der zu analysierende Beitrag gewissen Ansprüchen genügen muss, um überhaupt als ein Beitrag zum ethischen Diskurs Anerkennung finden zu können. Während unter dem Begriff Moral lediglich die Gesamtheit der normativen Überzeugungen zu verstehen ist, die in einer Gesellschaft oder einer Teilgruppe ebendieser Geltung beanspruchen können, also zumindest gelebt werden, selbst wenn sie vielleicht auch nicht ausdrücklich artikuliert werden, handelt es sich bei der Ethik um einen Fachbereich der Philosophie, der sich dementsprechend an einige ‚Spielregeln‘ der Wissenschaft zu halten hat. Zumindest drei wissenschaftliche Minimalanforderungen kommen hier in Betracht:

  • Konsistenz: Von einer Wissenschaft kann verlangt werden, dass ihre normativen und/oder deskriptiven Sätze konsistent sind, sich also nicht logisch widersprechen.
  • Kohärenz: Von einer Wissenschaft ist zu fordern, dass ihre normativen und/oder deskriptiven Sätze ein kohärentes Ganzes ergeben, also in einem sachlichen Zusammenhang zueinander stehen beziehungsweise einen ‚roten Faden‘ erkennen lassen und nicht einfach nur zusammenhanglose ‚Einzelelemente‘ darstellen.
  • Luzidität: Von einer Wissenschaft wird man erwarten können, dass die von ihr verwendeten Begriffe luzide, also verständlich, klar und eindeutig sind. Begriffe müssen demnach, wo nötig, definiert werden.

Es lässt sich freilich nicht bestreiten, dass auch zahlreiche Fachpublikationen im Bereich der Ethik diesem Anspruch nicht immer gerecht werden, sodass diese Minimalanforderungen nicht in einem strengen Sinne als ‚Checkliste‘, sondern als Leitstern, als anzustrebendes Ziel zu betrachten sind. Sie dienen dem Ausschluss von Willkür und der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit, also Zielen, denen auch Christina Berndt Wertschätzung entgegenbringen wird.

3. Analyse des Artikels

Der Artikel wird im Folgenden in durchbuchstabierte Abschnitte zerlegt, um Querverweise zu ermöglichen, ohne dieselben Aussagen doppelt und dreifach zitieren zu müssen. Sie werden stets fett wiedergegeben.

(a) [Titelei:] Tierwohl, Vegetarier und Veganer: Wer Tiere liebt, sollte sie essen

Ernährung: Wer Tiere liebt, sollte sie essen

[Bildunterschrift (eine Frau küsst eine Kuh):] Je besser die Menschen die Tiere behandeln, desto größer wird in der Regel die gegenseitige Zuneigung.

Eine Welt voller Vegetarier wäre keine gute. Denn wer Leid verhindert, indem er Leben verhindert, verhindert auch Glück.

Essay von Christina Berndt

Bereits die ersten Zeilen des Beitrags werfen zahlreiche Fragen auf und offenbaren erste sachliche Probleme.

Die Autorin möchte sichtlich auf das Problem hinaus, dass der Verzicht auf tierische Nahrung auch dazu führen würde, dass die sogenannten ‚Nutztiere‘ der Landwirtschaft verschwinden würden. Es ist dann jedoch nicht einzusehen, warum sie von einer Welt „voller Vegetarier“ spricht, denn in einer Welt „voller Vegetarier“ blieben die eierlegenden und milchgebenden sowie weitere ‚Nutztiere‘ schließlich erhalten. (Die fehlende begriffliche Präzision mag auch die Tatsache widerspiegeln, dass der Veganismus hier, mal wieder, als eine bloße Ernährungsweise betrachtet zu werden scheint.) Ebenso wenig ist nachzuvollziehen, wie eine Welt „voller Vegetarier“ überhaupt möglich sein sollte, denn eine flächendeckende Haltung von Hühnern, Rindern und Co. würde recht zeitnah dazu führen, dass kaum noch überschaubare Massen an ‚ausgedienten‘ Tieren ihren Ruhestand genießen dürften. Ein ökologisches Desaster, das auch in puncto Welternährung schwer zu vertreten wäre. Eine solche Welt wäre folglich so oder so zum Töten gezwungen, sodass auch der Fleischverzicht in einem anderen, fragwürdigen Licht erscheint. (Vgl. dazu Berndts Ausführungen in (g).)

Nicht minder heikel erscheint die Verknüpfung von Tierliebe mit dem (inkonsequenten) Vegetarismus und dem Veganismus. Wird bedacht, dass der Veganismus per Definition ein ethisches Gerechtigkeitsanliegen ist und dass auch Vegetarier für gewöhnlich ein moralisches Problem mit der Tötung von Tieren haben, dann lässt sich nicht übersehen, dass die von Berndt kommunizierte Verbindung fehlenden Ernst offenbart oder ebendiesen Vegetariern und Veganern unterschiebt. Man muss schließlich auch seinen Nachbarn nicht lieben, um ihn nicht ermorden (lassen) zu wollen. Es handelt sich hierbei keineswegs um eine Frage der Zuneigung.

Die sich nun anschließenden Fragen dürfen nicht dahingehend missverstanden werden, dass sie bereits eine Ad-absurdum-Führung des Artikels darstellen. Sie verdeutlichen lediglich, welche Probleme die Autorin im Verlauf des Textes in etwa zu adressieren hat, um eine befriedigende Position vorzustellen.

  1. Dass Leid-Verhinderung ein wichtiges Motiv von Veganern darstellt, lässt sich nicht bestreiten. Aber was ist mit der Frage nach der Tötung?
  2. Inwiefern ist Tierliebe mit Tierschlachtungen vereinbar?
  3. Inwiefern ist das Schlachten von Tieren aufgrund des Zulassens von Glück legitim?
  4. Je besser wir Tiere behandeln, desto glücklicher sind sie im Normalfall auch. Ist es dann nicht umso schlimmer, sie aus dem Leben zu reißen?
  5. Je besser wir Tiere behandeln, desto größer wird auch unsere Bindung sein. Wie ist der hierfür notwendige Spagat psychologisch zu bewerten, wenn es um die Schlachtung geht? Konkreter gefragt: Was bürden wir Leuten damit auf, wenn wir Tiere schlachten lassen? Ist dieser Spagat überhaupt ausreichend sicher flächendeckend zu erwarten oder droht nicht ständig fortgesetzte Tiermisshandlung bzw. -verwahrlosung?
  6. Würde die Autorin die folgende Aussage akzeptieren? Wer Hunde/Katzen/Elefanten/Delfine liebt, sollte sie essen.
  7. Wie viel Glück muss ermöglicht werden, um unvermeidbare leidvolle Existenz zu rechtfertigen?
  8. In welchem Verhältnis müssen Leid und Glück überhaupt stehen? Reicht ein leichtes Überwiegen des Glücks?
  9. Ihr zentraler Punkt scheint darauf hinaus zu wollen, dass ‚Nutztiere‘ nie leben würden, wenn sie und ihre Erzeugnisse nicht auf unsere Teller kämen. Die Nicht-Existenz erscheint im Vergleich zu einer glücklichen Existenz als ein Übel, aber nicht-existente Wesen habe keine Interessen und leiden nicht unter ihrer Nicht-Existenz oder unter ihrem verpassten Glück. Wer ist also das Opfer dieses verpassten Glücks? Noch einmal anders gefragt: Wem soll die Erhöhung der Glückssumme auf der Welt etwas bedeuten? Dem Universum? Einem Gott?
  10. Folgt aus dieser Perspektive nicht auch für Menschen die Pflicht, Kinder in die Welt zu setzen, solange zu erwarten ist, dass sie ein gutes Leben führen werden? Ist Frauen, die keine Kinder bekommen wollen, folglich ein Vorwurf zu machen?
  11. Da diese Logik auch im Humanbereich greifen müsste: Wie weit darf bei Menschen gegangen werden? Müsste die Erzeugung von menschlichem Leben zum Zwecke der Organgewinnung dann nicht zulässig sein? Wäre halbwegs glückliche Sklaverei vertretbar, wenn nur unter dieser Bedingung ein neues Leben entstehen würde?

Es ließen sich allein auf der Basis der bisherigen Zeilen noch weitere Fragen aufzählen, doch die Grundprobleme des zu erwartenden Gedankenganges sollten hiermit erfasst sein.

(Die in Punkt 9 aufgeworfenen Fragen scheinen die Debatten über Generationengerechtigkeit zu torpedieren, denn auch hier steht die Berücksichtigung der Interessen von nicht-existenten Menschen zur Diskussion. Da sich die Unterbindung von tierlichem Nachwuchs jedoch unter völlig anderen Bedingungen bewerkstelligen lässt, bedarf dieser Scheineinwand keiner weiteren Widerlegung.)

(b) In Deutschland macht sich eine große Tierliebe breit. Das ist ganz wunderbar. Denn Tiere sind ganz wunderbar. Sie empfinden Freude, Lust, Schmerzen, Angst, Zuneigung und womöglich noch viel mehr. Man sollte ihnen deshalb möglichst kein Leid antun.

Obgleich die Autorin es bei genauer Betrachtung nicht sagt, bestärkt sie im Zusammenspiel mit (c) noch einmal die unzulässige, wenn auch nicht gänzlich unbegründete Verquickung von Veganismus und Tierliebe.

Entscheidender ist, dass Berndt bereits in diesem ersten Abschnitt zum ersten Mal fehlende Stringenz (siehe auch: Kohärenz) offenbart:

  1. Warum sollte aus der Tatsache, dass Tiere „Freude, Lust, Schmerzen, Angst, Zuneigung und womöglich noch viel mehr“ empfinden können, (nur) folgen, dass man ihnen möglichst kein Leid antun sollte? Folgt denn dann nicht auch aus dieser Feststellung, dass man möglichst weder ihre Freude noch ihre Lust hemmen, dass man ihnen vielleicht sogar Freude und Lust bereiten sollte?
  2. Es liegt ein klassischer Sein-Sollen-Fehlschluss vor. Aus der Tatsache, dass Tiere negative Empfindungen haben (Sein), folgt logisch nicht, dass sie ebendiese nicht empfinden sollten (Sollen), so sehr dieser Schluss auch nahezuliegen scheint. Berndt wird diesen ‚Riss‘ im weiteren Verlauf des Gedankengangs nicht mehr kitten, aber da er für die weitere Betrachtung nicht von Belang ist, sei er an dieser Stelle nur als ein weiteres Indiz für die mangelhafte Qualität des Beitrags aufgezeigt.

(c) Weil viele Menschen das ebenso sehen, wenden sich immer mehr einer Ernährung zu, für die keine Tiere sterben oder leiden müssen. 7,5 Millionen Vegetarier gibt es mittlerweile in Deutschland, 1,4 Millionen Menschen leben vegan; Tendenz jeweils rasant steigend. Dabei fühlt sich, wer selbst Karrée vom zuvor glücklichen Deichlamm und Entrecôte vom gehätschelten Kobe-Rind verachtet, moralisch durchaus überlegen, wie schon der etwas gemeine, aber entlarvende Witz zeigt, woran man denn einen Vegetarier erkennt. Antwort: Er sagt es dir.

Noch einmal: Der Veganismus ist keine Ernährungsform. Wichtiger: Auch Veganer wenden sich keiner Ernährung zu, für die keine Tiere mehr sterben oder leiden müssen; das ist nicht die Motivation. Auch für sie sterben im Rahmen des Ernteschutzes Tiere oder enden als Ernte- bzw. Transportopfer. Dass Veganer diese Falschbehauptung ständig selbst verbreiten bzw. den Veganismus als „leidfreie“ Option anpreisen, entschuldigt diesen so offenkundigen Fehler nicht. Er weist vielmehr darauf hin, dass sich Berndt nie wirklich eingehender mit den Diskussionen rund um den Veganismus beschäftigt zu haben scheint.

Fragwürdig ist ebenso, inwiefern sich Vegetarier einer Ernährung zuwenden/annähern, für die keine Tiere mehr leiden oder sterben. Dass der Vegetarismus die Anzahl der Schlachtungen bzw. Todesopfer senkt, mag der Fall sein, auch wenn es sich keineswegs zwingend ergibt, aber die Gewinnung von Eiern und Milch ist unzweifelhaft oft mit mehr Leid verbunden als die bloße Mästung von Tieren. Wer in diesem Kontext das auf sich zurückzuführende Leid verringern will, ohne die Bereitschaft mitzubringen, wirklich konsequent zu sein, wäre also besser beraten, auf das Fleisch von großen Tieren (Schwein, Rind, Wild) zurückzugreifen und die vegetarischen Produkte zu streichen. Dass der Vegetarismus flächendeckend als ein Schritt zu einem besseren Mensch-Tier-Verhältnis wahrgenommen wird, offenbart insofern, wie sehr uns Intuitionen und zu oberflächliche Betrachtungen in die Irre führen können.

Bedenklicher als diese sachlichen Unzulänglichkeiten dieses Abschnitts ist jedoch, mit Verlaub, der intellektuelle Tiefflug, den sich Berndt mit den letzten zwei Sätzen geleistet hat. In ebendiesen nimmt sie eine Psychologisierung der strikten Fleischverweigerer vor, die auf so vielen Ebenen einen Mangel an gedanklicher Tiefe belegt, dass die Lektüre an dieser Stelle berechtigterweise abgebrochen werden könnte.

  1. Psychologisierungen haben in rationalen Diskursen nichts verloren. Da sie sich weder belegen noch widerlegen und sich jederzeit vornehmen lassen, führt die Duldung dieses Verhaltens letztlich dazu, dass sich am Ende alle Diskursteilnehmer gegenseitig psychologisieren können, um die Position des Gegenübers zu diskreditieren. So ließe sich behaupten, dass Berndt nur den Charakter der Vegetarier und Veganer angreift, weil sie wüsste, dass sie auf der Sachebene nichts zu gewinnen hat. Entlarvt sie mit diesem ‚Witz‘ nicht ihre eigene Unsicherheit, ihr eigenes schlechtes Gewissen? Und sind nicht ihre folgenden Argumente nur ein Beleg dafür, dass sie lediglich zu schwach dafür ist, liebgewonnene Gewohnheiten abzulegen, sodass sie nun verzweifelt Rechtfertigungen für ihre Tierausbeutung sucht? – Wer diese Ebene betritt, hat sich bereits als Gesprächspartner disqualifiziert.
  2. Kommuniziert sie nicht mit der Kritik an dem Gefühl der eigenen Überlegenheit eigene moralische Überlegenheit? Sie würde sich schließlich nie für etwas Besseres halten – während sie auf andere herabschaut.
  3. Fühlt sich derjenige auf eine verwerfliche Weise überlegen, der nicht vergewaltigt, der keine Kinder schlägt? Würde sich Berndt daran stören, wenn sie sich im Vergleich mit einem Serienmörder für etwas Besseres hält?
  4. Selbst wenn sich Vegetarier und Veganer auf eine unangenehme Weise für überlegen halten würden (während sie es gerade sind, die sich nicht für so viel wichtiger halten, dass es ihnen zustünde, Tiere zu Burgern usw. zu verarbeiten): An ihrem Argument ändert das gar nichts. Entweder liegen sie richtig oder nicht – unabhängig davon, für wie sympathisch man sie hält. Dass 2 und 2 addiert 4 ergeben, wird auch nicht dadurch falsch, dass Abu Bakr al-Baghdadi ebenfalls zu diesem Ergebnis gekommen war.
  5. Der Witz zielt letztlich darauf ab, dass Vegetarier oder Veganer nervig seien, dass sie einem das Thema aufzwingen würden, dass sie doch bitte einfach die Klappe halten mögen. Inwiefern er überhaupt die Wirklichkeit widerspiegelt (was sich bestreiten lässt), ist unerheblich. Interessanter ist die Frage: Warum auch nicht? Wenn Berndt das Opfer einer solchen Ausbeutung wäre: Würde sie sich nicht wünschen, dass regelmäßig und mit Nachdruck auf ihr Schicksal hingewiesen wird? Hält sie es nicht für richtig, dass Missständen, die ihr wichtig sind, Aufmerksamkeit geschenkt wird?

(d) Aber wäre eine Welt mit lauter Vegetariern wirklich eine gute Welt? Wenn man die rasante Zunahme an Menschen, denen niemals ein Tier auf den Teller kommt, einmal weiterdenkt, dann kommt man unweigerlich zu dem Schluss: Es wäre vor allem eine traurige Welt. Es gäbe kaum noch Nutztiere, die man bewundern und streicheln und denn man in die Kulleraugen sehen kann. Die meisten Tiere, die in unserem Land auf vier Beinen durch die Gegend streifen, in Ställen stehen oder auf Weiden grasen, existieren nur, weil sie eines Tages gegessen werden oder Lebensmittel produzieren sollen.

Auch dieser Abschnitt offenbart Berndts zumindest in diesem Artikel zu attestierende Unfähigkeit, sauber zwischen Vegetarismus und Veganismus zu trennen. Es wurde bereits festgehalten, dass flächendeckender Vegetarismus nicht nur praktisch unmöglich ist, sondern dass er auch keineswegs zu einem Verschwinden der ‚Nutztiere‘ führen würde.

Es drängen sich des Weiteren neue Fragen auf:

  1. Seit wann benötigen wir ‚Nutztiere‘, um Tiere bewundern oder streicheln, um in ihre „Kulleraugen sehen“ zu können? Sind Berndt Haustiere unbekannt? Wer hat gegenwärtig überhaupt auf diese Weise Kontakt zu Nutztieren? Ohnehin schon fast niemand mehr.
  2. Warum sich nicht an Wildtieren erfreuen, Vögel füttern, Schwalben Nistmöglichkeiten anbieten usw. usf.?
  3. Warum sollten diese trivialen Interessen des Menschen die zwangsläufig gewaltvolle und selbst unter besten Bedingungen leidbehaftete Nutzung von Tieren zu Ernährungszwecken rechtfertigen? Worauf stützt sich überhaupt das Recht, diese Entscheidung zu fällen?
  4. Wenn diese Interessen so einen hohen Stellenwert haben: Warum sich nicht einfach in kleinen Mengen an diesen Tieren erfreuen, ohne sie auszubeuten? Empfinden Menschen nicht auch Freude daran, etwas geben zu können, ohne eine Gegenleistung zu erwarten? (Siehe dazu Berndts Ausführungen in (f).)
  5. Würde sie diese Logik akzeptieren, wenn man sie halbwegs analog auf den Humanbereich überträgt? Wenn nein: Was ist der ethisch relevante Unterschied?

(e) Würden sich alle Menschen rein pflanzlich ernähren, dann bräuchte man all diese Tiere nicht. Man würde sie konsequenterweise auch nicht mehr züchten. Nirgendwo träfe man dann noch auf ein Schaf. Statt bei der Familientour im E-Auto “Guck mal, da sind Kälbchen!” zu rufen, würde man an tristen Wiesen vorbeifahren, auf denen Sonnenkollektoren stehen.

Nachdem im vorherigen Abschnitt ausschließlich von Vegetariern gesprochen wurde, obwohl es um Vegetarier und Veganer ging, sind nun offenkundig unangesprochen nur noch Veganer gemeint, sodass sich das Durcheinander diesbezüglich fortsetzt. Und es ist noch einmal darauf hinzuweisen, dass Veganer per Definition durch nichts dazu gezwungen sind, von einer gewissen Tierhaltung unter Verzicht auf Ausbeutung abzusehen:

„[Der Veganismus] ist eine Philosophie und Lebensweise, die danach strebt, alle Formen der Ausbeutung von und Grausamkeiten gegenüber Tieren – soweit es möglich und praktisch durchführbar ist – zu vermeiden, sei es für die Ernährung, für Kleidung oder für irgendeinen anderen Zweck.“

(offizielle Definition der Vegan Society, Übersetzung durch den Verf.)

Wir sind keineswegs dazu gezwungen, Schafe zu essen, um sie zu halten, zumal sich auch über Themen wie Landschaftspflege offen reden lässt. (Siehe dazu Berndts Ausführungen in (f).)

Ferner sollte in diesem Abschnitt nicht übersehen werden, wie einseitig – um nicht manipulativ zu sagen – die Autorin ihre Szenarien wählt. Dass Berndt hier mit einer falschen Dichotomie, mit einem falschen Dilemma arbeitet, ist für jeden ersichtlich, der auch nur halbwegs regelmäßig mit dem Zug oder Auto die größeren Ballungsgebiete verlässt. Wer auch nur mit etwas Aufmerksamkeit durch die Landschaft fährt, wird nicht nur feststellen, dass ein erheblicher Teil der landschaftlichen Monotonie auf den Anbau von Tierfutter zurückzuführen ist, sondern sie oder er wird sich an Pferden, Rehen, an Reihern, hie und da sogar an Störchen und weiteren Vögeln erfreuen können.

Wie wenig Berndt gewillt war, eine nüchterne Betrachtung vorzulegen, kann auch folgende Tatsache illustrieren: Während der Anblick von „Kälbchen“ für sie ein Anlass zur Freude zu sein scheint, ist er für Veganer und zumindest für einige Vegetarier schlicht bedrückend. Für sie heißt es nicht: „Guck mal, da sind Kälbchen!“ Für sie heißt es: „Die Armen kommen bald ins Schlachthaus.“ Ihr Anblick ist nicht ohne den Gedanken zu haben, dass sie ihr Leben nicht auskosten werden können. Und wenn die Kinder im „E-Auto“ davon wüssten, ginge es ihnen oft genug auch nicht anders.

(f) Ja, das wäre besser für das Klima, auch das ist wahr. Tierhaltung und Fleischproduktion verursachen erhebliche Mengen von Treibhausgasen und bedeuten einen eklatanten Wasserverbrauch. Deshalb muss man den Fleischkonsum im Land unbedingt drosseln, das schon. Aber gar keine Tiere mehr zu essen, würde eben heißen, dass man auch gar keine mehr bräuchte. Überdauern würden dann allenfalls noch ein paar Exemplare in Streichelzoos oder in der Dauerausstellung: “So war’s mal auf dem Bauernhof.”

Berndt verlässt nun das Gebiet der Ethik, um, den vorherigen Abschnitt berücksichtigt, anscheinend die Behauptung aufzustellen und das Zugeständnis zu formulieren, dass das Ende der ‚Nutztier’haltung die beste Lösung für das Klima wäre und den „Wasserverbrauch“ senken würde. Zu bedenken ist hierbei, dass eine vegane Welt keineswegs die optimale Lösung für das Klima wäre, da Tiere mit uns nicht automatisch in Nahrungskonkurrenz stehen, ressourcenschonend ansonsten wertlose oder wertarme Flächen nutzen können und an sich keineswegs klimaschädlich(er) sein müssen. Unstrittig ist hingegen, dass wir die Tierhaltung aus diesem Blickwinkel dringend reduzieren und rationalisieren müssten, und wer zudem einen Blick hinter die Fassade des virtuellen Wassers bzw. Wasser‚verbrauchs‘ wirft, also in Kreisläufen zu denken beginnt, wird auch Berndts zweiten Punkt als Argument für eine vegane Lebensweise verwerfen, sodass festzuhalten bleibt: Es entbehrt nicht einer gewissen Komik, dass Berndt ausgerechnet hier den veganen Narrativen unkritisch auf den Leim geht und es vorzieht, sich mit ihnen ablehnend auf dem Gebiet auseinanderzusetzen, auf dem sie bisher so eine schlechte Figur gemacht hat.

Darüber hinaus ist unverändert nicht einzusehen, warum die Autorin von einer Welt „mit lauter Vegetariern“ spricht, aber gleichzeitig beklagt, dass so lediglich Streichelzoos und Dauerausstellungen blieben, obwohl es gerade die Vegetarier sind, deren Ernährungsweise von der Fortexistenz von ‚Nutztieren‘ abhängt. Ihre hier getätigte Aussage, dass man keine ‚Nutztiere‘ mehr bräuchte, wenn man sie nicht essen würde, offenbart wiederholt, wie unachtsam der Artikel geschrieben ist, da sie es eigentlich nachweislich besser weiß:

„Die meisten Tiere, die in unserem Land auf vier Beinen durch die Gegend streifen, in Ställen stehen oder auf Weiden grasen, existieren nur, weil sie eines Tages gegessen werden oder Lebensmittel produzieren sollen.

(Hervorhebung durch den Verf., vgl. (d).)

Die Autorin wird nachfolgend für eine Welt plädieren, in der wir Tiere dauerhaft achtsam und gut halten, ohne das Risiko zu sehen, dass uns diese Aufgabe vielleicht schlicht überfordern könnte, dass Vernachlässigung und Misshandlung ständige Begleiterscheinungen bleiben werden, während sie selbst schon nicht genug Achtsamkeit für das Verfassen dieses Artikels aufbringen konnte. Sie erweist ihrem Anliegen damit einen Bärendienst.

(g) Ein britischer Philosoph hält es für eine moralische Pflicht, Fleisch zu essen

Es hilft übrigens auch wenig, ein kompromissbereiter Lactovegetarier zu sein - also auf Fleisch und Eier zu verzichten, aber Milch und Käse zu verzehren. Man kann keine Kühe halten, um sie lediglich zu melken. Kühe geben Milch nur dann, wenn sie Kälbchen bekommen. Kälbchen geben nur dann wieder selbst Milch, wenn es Weibchen sind. Die kleinen Bullen müssen irgendwo hin. Beim Ziegenkäse verhält es sich genauso. Weil Ziegenkäse immer beliebter wird, aber kaum jemand Zicklein isst, landet das so zarte und fettarme Fleisch in großen Mengen im Hundefutter.

Die Autorin beginnt diesen Abschnitt mit einer neuen Überschrift, bei der zu fragen ist, was sie darstellen soll, wenn es nicht auf ein wertloses Autoritätsargument hinauslaufen soll. „Oh, ein Philosoph, ein echter Philosoph, sagt uns, dass wir die Pflicht haben, Fleisch zu essen? Dann muss das ja stimmen!“ Nur halten es zahlreiche andere Philosophen für unsere Pflicht, vom Töten von Tieren für den Fleischverzehr abzusehen.

Zum eigentlichen Text: Es ist davon auszugehen, dass die Bereitstellung von gesextem Sperma, das schon heute recht zuverlässig ist, zukünftig auf eine nahezu vollständig fehlerfreie Weise möglich sein wird, sodass Berndts Einwand gegen den Lactovegetarismus anders als der zuvor angeführte Einwand (siehe (a)) praktisch bedeutungslos werden wird. Bullenkälber und Ziegenböckchen können, wo sie nicht als Samenspender benötigt werden, folglich vermieden werden. Ein Sachverhalt, der Berndt hätte bekannt sein sollen.

(h) “Wenn viele Menschen Vegetarier oder Veganer würden, wäre es das größte Desaster, das es für Tiere je gab, seit ein Asteroideneinschlag die Dinosaurier und viele andere Arten ausgerottet hat”, sagt der britische Philosoph Nick Zangwill. Der Mensch habe deshalb sogar eine moralische Pflicht, Fleisch zu essen, schrieb der Professor vom University College London kürzlich im Journal of the American Philosophical Association. Vegetarier und Veganer - sie sind so etwas wie die natürlichen Feinde all jener Tiere, die gezüchtet werden, um gegessen zu werden. Denn sie verhindern deren Leben.

Die von Zangwill eingenommene Position ist keineswegs neu und wurde unter anderem schon von dem britischen Historiker Leslie Stephen (1832-1904) verbreitet, indem er schrieb [5]:

„Das Schwein hat ein stärkeres Interesse an der Nachfrage nach Speck als irgend jemand sonst. Wären alle Juden, so gäbe es überhaupt keine Schweine.“

Es ging aufgrund der Erwiderung des frühen Tierrechtlers Henry S. Salt als „logic of the larder“ in die Geschichte der Tierethik ein [6] und wird bis heute auch unter dem Stichwort „replaceability argument“ diskutiert. Salt hatte es bereits 1896 kurz und bündig als unzulässig zurückgewiesen. [7]

Obwohl es sich bei diesen Informationen nicht um ‚Geheimwissen‘ handelt, haben sich die 126 Jahre alten berechtigten Standardeinwände gegen diese Form des Arguments Berndts Kenntnisnahme entzogen, weswegen sie in diesem Artikel keine Berücksichtigung erfahren. Ihre Ausführungen zu diesem Argument werden noch eine Weile unkritisch fortgesetzt, weswegen an dieser Stelle noch keine weiteren Worte darüber verloren werden sollen.

Zangwills Behauptung, dass eine Zunahme der Anzahl der Vegetarier und Veganer für Tiere das größte Desaster seit dem Einschlag eines gewaltigen Asteroiden vor ca. 66 Millionen Jahren sei, erscheint derartig überzogen und lächerlich, dass sich eine Erwiderung eigentlich erübrigen sollte. Die Anzahl der Arten, die wir im Rahmen unserer Landwirtschaft für unsere Ernährung ausbeuten, ist so gering, dass ihr Verschwinden nicht einmal in einer Monatsstatistik auffallen würde. Der Spiegel [8] schrieb schon 2014 :

„Derzeit gingen von den - vorsichtig geschätzt - fünf bis neun Millionen Tierarten weltweit jährlich 11.000 bis 58.000 verloren, heißt es in dem ‚Science‘-Überblick.“

Der Deutschlandfunk titelte erst in diesem Jahr, dass wir gegenwärtig Zeuge des „größte[n] Massensterben[s] seit 66 Millionen Jahren“ werden. [9] Ursache dieser Entwicklung sind weder die wenigen Veganer noch die deutlich zahlreicheren Vegetarier, sondern zahlreiche andere Faktoren wie die allgemeine Ausbreitung der Menschheit, die Naturzerstörung, der Klimawandel – und selbstverständlich unsere ‚Nutztier’ausbeutung. Es mutet wahrlich grotesk an, gegen das noch nicht einmal drohende Ende der ‚Nutztier’haltung anzukämpfen, während darüber geschwiegen wird, in welchem gewaltigen Umfang ebendiese Wildtiere verdrängt hat und weiterverdrängen wird. (Der originale Beitrag Zangwills wurde nicht gesichtet, sodass sich diese Ausführungen nur auf die von Berndt bereitgestellten Zeilen beziehen. Die Kritik gilt insofern in erster Linie ihr; inwiefern sie Zangwill trifft, wäre erst zu prüfen.)

(i) Nun könnte man sagen: Gut für Kuh, Schwein, Huhn, Ziege, Schaf, wenn es sie denn nicht mehr gibt. Dann müssen sie wenigstens nicht sterben. Aber wäre das für diese Tiere wirklich eine erstrebenswerte Entwicklung? So kontraintuitiv diese Erkenntnis auch ist: Für Nutztiere ist es von Vorteil, dass Menschen sie essen. Denn wenn Menschen sie nicht mehr äßen, würden sie teuer dafür bezahlen: mit ihrer Existenz auf Erden.

Dieser Abschnitt belegt, dass die eingangs zusammengetragenen Fragen berechtigt waren, denn Berndt begeht in der Tat den bereits 1896 von Salt klar erfassten Fehler, die Nicht-Existenz von Wesen zu bedauern. Es ist noch einmal zu fragen: Wer leidet unter dieser Nicht-Existenz? Existiert eine uns unbekannte Sphäre, in der Tiere gackernd, muhend und grunzend das Ausbleiben einer materiellen Existenz beklagen? Auch die im Kommentar zum vorherigen Abschnitt aufgeworfene Frage ist zu wiederholen: Was ist mit den Wildtieren, die nie leben werden, weil ihnen ‚Nutztiere‘ den Platz oder die Ressourcen wegnehmen?

Selbst dann, wenn es Berndt gelingen sollte, dieses fundamentale Gebrechen ihrer Position argumentativ zu ‚reparieren‘, stünde sie unverändert vor dem Problem, sich einer nicht gerade trivialen Konsistenzfrage stellen zu müssen: Müsste diese Logik nicht auch im reinen Humankontext greifen? Bekommt ein (fiktives) Kannibalenvolk Berndts Segen, wenn ansonsten Nicht-Existenz ‚drohen‘ würde? Wäre die Zucht von Menschen als lebendiges ‚Ersatzteillager‘ dann nicht zulässig? Der noch offene Rest des Beitrags wird zeigen müssen, ob sie wenigstens diese Rückfrage befriedigend adressiert.

(j) Das mag sich zunächst richtig anhören. Besser gar nicht erst geboren werden, als neben einem Stück Kräuterbutter auf dem Teller eines gierigen Fleischessers zu landen. Doch damit würde man voraussetzen, dass ein Tier lieber darauf verzichten würde, überhaupt zu leben, wenn sein Leben auch unschöne Seiten hat und noch dazu mit einem Tod nach Speiseplan endet. Nun kann man Tiere nicht fragen, wie sie das sehen. Natur bedeutet einen unbedingten Lebenswillen. Man kann deshalb davon ausgehen, dass auch ein Tier gerne leben will, ganz gleich, welch früher Tod ihm schon bei der Geburt beschieden sein mag.

Berndt spricht Tieren einen „unbedingten Lebenswillen“ zu; sie würden „gerne leben“ wollen. Es ist jedoch gerade diese Einschätzung, die gegen das Töten von Tieren, nicht aber für das In-die-Welt-Bringen von Tieren spricht, da nirgends Tiere auf ihre Existenz warten und unter ihrer Existenzlosigkeit leiden. Indem die Autorin – nicht zu Unrecht – impliziert, dass auch unschöne, also schmerzhafte und leidvolle Momente nicht dazu imstande seien, den Lebenswillen von Tieren zu brechen, schwächt sie ihren Fall sogar noch weiter: Sie spricht dem Lebensinteresse der Tiere, zumindest weitestgehend (siehe (l)), den höchsten Wert zu, um daraus den prinzipiellen Freibrief abzuleiten, ebendieses Interesse verletzen zu können. Fürwahr die Quadratur des Kreises!

Berndts Gedankengang zwingt sie letztlich dazu, wenigstens annähernd bestimmen zu müssen, welches Leid und welche Schmerzen noch vertretbar, also der Nicht-Existenz vorzuziehen sind. Gemäß ihrer Logik dürfte sie mit hin und wieder durchgeführten Hunde-, Hahnen- oder Fischkämpfen ebenso wenig ein Problem haben wie mit dem Stierkampf; der in dem Buch Don’t go veggie [10] präsentierten Rechtfertigung dieses blutigen Treibens sollte sie ihre Zustimmung nicht verweigern können:

„[… P]raktisch das gesamte Leben der Kampfstiere [entspricht] eigentlich den Wünschen der Tierschützer: Die Stiere leben im Freiland auf fetten Weidegründen […]. Sie sind geschützt vor Raubwild und werden tierärztlich versorgt. Erst in der Arena ändert sich ihr Status. Hier treten sie gegen leichtfüßige Toreros an. […] Das Fleisch der Kampfstiere ist in Spanien übrigens heiß begehrt, die aufwendige Haltung soll der Grund für die besondere Qualität sein. Aus spanischer Sicht ist es ein typischer Fall von Biofleisch. Den Kampfstieren geht es nach den Maßstäben der Tierschützer besser als den meisten Rindern dieser Welt. Wenn es keine Stierkämpfe mehr gäbe, wären diese Stiere nicht „noch besser geschützt“, sondern die gleiche Anzahl von Tieren stünde im Stall statt auf den Weiden, bis sie schließlich im Schlachthof der gleichen Bestimmung zugeführt würden. Es wäre das schmähliche Ende des geachteten Kampfstiers.“

Da auch fürchterlich gequälte, ja selbst lebendig ausgeweidete Tiere noch versuchen, ihr Leben zu verteidigen, ist kaum einzusehen, wie sich Berndt anders zu solchen Barbareien positionieren sollte. Und es ist wieder zu fragen: Was spricht noch dagegen, diese Logik auf den Humanbereich zu übertragen?

(k) “Das Mindeste, was wir Schlachttieren schulden, ist ein Leben vor dem Tod.”

Wenn es um Menschen geht, fällt die Entscheidung jedenfalls in der Regel für das Leben aus. Da wird das Leben per se als ein so hohes Gut betrachtet, dass es nur im Angesicht unerträglicher Qualen verhandelbar ist. Punktuelles Leid reicht in der Regel nicht aus, um es infrage zu stellen. “Niemand würde behaupten, dass das Leben einer Frau in einer gewalttätigen Beziehung per se nicht lebenswert sei”, sagt der Philosoph Paul B. Thompson, der sich an der Michigan State University mit der Ethik der Landwirtschaft beschäftigt.

Auch wenn zu verstehen ist, was das Zitat, welches als nächste Überschrift dienen soll, zum Ausdruck bringen will, ist schwer nachzuvollziehen, warum ausgerechnet diesem sprachlich misslungenen Aperçu-Versuch Vorzug gewährt wurde, wo doch zahlreiche gängige Formulierungen desselben Gedankens existieren. Ohne „Leben vor dem Tod“ kein Schlachttier; das „Leben vor dem Tod“ ist notwendige Bedingung, nicht das „Mindeste“, was wir „schulden“.

Das Zitat von Paul B. Thompson untermauert noch einmal den Verdacht, dass Berndt Tierkämpfe und vergleichbare brutale Formen der Tiernutzung unbemerkt (?) zu rechtfertigen scheint, auch wenn daraus nicht fälschlicherweise geschlossen werden darf, dass ihre Beobachtung falsch ist. (Das Problem ist, was in diesem Beitrag daraus abgeleitet, was suggeriert wird.) Schon Goethe hatte seinen Werther darauf hinweisen lassen, „wie unverdrossen auch der Unglückliche unter der Bürde seinen Weg fortke[u]cht, und alle gleich interessiert sind, das Licht dieser Sonne noch eine Minute länger zu sehen“. [11]

Zu beachten ist jedoch, dass dieser Abschnitt eine neue Konsistenzfrage aufwirft: Selbst wenn einzuräumen ist, dass ein Leben auch dann noch nicht „per se“ lebensunwert wird, wenn jemand partnerschaftliche Misshandlung erfahren muss, so bleibt doch festzuhalten, dass wir es für gewöhnlich für unstatthaft halten, menschliches Leben mit einer Tötungsabsicht zu erzeugen. Warum sollte es also bei Tieren statthaft sein?

(l) Es ist schon klar: Ein Leben, das nur noch qualvoll ist, ist auch für Tiere wohl nicht erstrebenswert. Auch ein Tier würde angesichts einer Zukunft in der Legebatterie, in der Sauenanlage oder Tag und Nacht angebunden im Betonstall, mit ständig schmerzenden Beinen und entzündetem Euter vermutlich lieber auf sein Leben verzichten. In der Massentierhaltung sind die Bedingungen oft so entsetzlich, dass das Leben nicht mehr lebenswert ist, schreibt der Moralphilosoph David DeGrazia von der George Washington University in einem Aufsatz über die Ethik der Tierhaltung in “The Oxford Handbook of Animal Ethics”.

Es ist somit richtig, dass eine Welt voller misshandelter Tiere in schrecklichen Ställen noch trauriger ist als eine Welt ohne Tiere. Und deshalb sollte man selbstverständlich keine misshandelten Tiere essen und nicht damit die Misshandlung weiterer Artgenossen befördern. Es ist wie beim Menschen auch: Auf die Lebensqualität kommt es an. Oder wie es der gelernte Metzger und Pionier der Biolandwirtschaft Karl Ludwig Schweisfurth einmal ausdrückte: “Das Mindeste, was wir Schlachttieren schulden, ist ein Leben vor dem Tod.”

Diese zwei Absätze bilden eine Schlüsselstelle des Textes und sollten sachlich ernst genommen werden, da Berndt hier, obwohl ihr nahezu lückenlos das Gegenteil vorgeworfen wurde, ausdrücklich festhält, dass sie mit ihrer Position nicht den Status quo, dass sie die gegenwärtig übliche Form der Tierhaltung nicht verteidigen will. Wer der Autorin gerecht begegnen will, sollte diesen Text daher als das lesen, was er sein wollte: ein Vergleich zweier fiktiver Szenarien (eine Welt, in der (fast) niemand mehr Tierisches isst versus eine Welt, in der weniger, aber weiterhin Tierisches verzehrt wird und die Tiere bis zu ihrem Tod ein Leben führen, das sich als gut bzw. glücklich beschreiben ließe).

Es wurde bereits ausgeführt, warum die Argumentation, dass ein kurzes Leben besser als das Nie-geboren-Werden sei, nicht zu überzeugen vermag, aber auf der Basis dieser Abschnitte lassen sich nun weitere Rückfragen an die Autorin wiederholen oder ergänzen:

  1. Wenn es Berndt doch nur um gutes Leben gehen soll: Liegt dann nicht umso mehr daran, nicht aus dem Leben gerissen zu werden?
  2. Wir vertreten im Normalfall die Position, dass auch die Dauer des Lebens zu einem guten Leben gehört. Anders ausgedrückt: Wir bedauern es, wenn ein Mensch viel zu früh stirbt, also die ihm potenziell zur Verfügung stehende Lebenszeit nicht auskosten konnte, selbst wenn die Zeit bis zu seinem Tod insgesamt glücklich war. Dasselbe gilt zweifelsfrei auch für unsere Haustiere, sodass zu fragen ist: Warum sollte die Lebensdauer nicht auch bei ‚Nutztieren‘ ein entscheidender Faktor sein?
  3. Die Autorin hält es für selbstverständlich, dass man keine misshandelten Tiere essen und nicht für ihre Misshandlung zahlen sollte. Wenn, so Berndt (siehe (j)), davon auszugehen ist, dass Tiere ein nahezu unbedingtes Lebensinteresse haben und den Erhalt ihres Lebens über die Vermeidung von Schmerzen und Leid stellen: Handelt es sich, sprachlich freilich etwas gezwungen, dann nicht um die ultimative Misshandlung, ihnen gewaltsam das Leben zu nehmen? In diesem Sinne urteilte auch das deutsche Bundesverwaltungsgericht schon 1997: „Der mit dem schwersten Schaden verbundene Eingriff ist die Tötung eines Tieres.“ [12]

(m) Anders als die Würde des Menschen ist die Würde des Nutztieres aber nicht unantastbar. Nur die wenigsten Tiere, darunter Menschenaffen, erreichen Bewusstseinszustände, die ihnen jene Würde und Rechte verleihen, wie sie bisher nur dem Menschen zugesprochen werden. Recht auf Gesundheit und Schutz vor gewaltsamem Tod gehören dazu. Nutztiere aber darf man schlachten. Und doch verlangt ihre Würde, dass man im Umgang mit ihnen Mindeststandards einhält.

Dieser Abschnitt stellt die zweite Schlüsselstelle des Textes dar, und mit ihm steht und fällt der gesamte Text, weswegen er sorgfältig betrachtet werden sollte.

Die Autorin möchte mit diesen Zeilen ihre Begründung dafür vorlegen, warum bei Tieren statthaft sein soll, was sich bei Menschen verbieten würde. Zu diesem Zweck bringt sie einen zweistufigen Würdebegriff ins Spiel: Während der Mensch und wenige andere Tiere über eine unantastbare Würde verfügten, hätten ‚Nutztiere‘ lediglich eine andere, weniger gewichtige Form der Würde, die zwar nach einem guten Umgang verlange, aber kein Tötungsverbot rechtfertigen könne: „Nutztiere […] darf man schlachten.“ Als Begründung führt sie an, dass nur der Mensch und einige andere Tiere „Bewusstseinszustände“ erreichten, die „Rechte verleihen“ (sollten).

In Kapitel 2 dieser Analyse wurde darauf hingewiesen, dass von einem Text, der einen Beitrag zur ethischen Debatte leisten will, zu erwarten ist, dass er klare, intersubjektiv nachvollziehbare Begriffe verwendet (Luzidität). Berndts Beitrag verstößt sichtlich gegen diese Minimalanforderung, da vollkommen unklar bleibt, was „Würde“ sein soll und warum sich ihre Unantastbarkeit aus „Bewusstseinszuständen“ ergeben soll, die nur bei Menschen und wenigen anderen Tieren anzutreffen seien. Es handelt sich hier sichtlich um einen Containerbegriff, also um einen Begriff, der sich recht beliebig ‚befüllen‘ lässt.

Doch auch wer noch nicht gewillt ist, diesen Artikel schon aufgrund des Verstoßes gegen das ‚Luziditätskriterium‘ zurückzuweisen, kann diesen Abschnitt nicht überspringen, ohne einen zweiten schwerwiegenden Verstoß, nämlich gegen das Konsistenzkriterium, zu bemerken. Berndt möchte „Bewusstseinszustände“ zum Maßstab für das Haben einer unantastbaren Würde erheben, über die nur Menschen und wenige andere Tiere verfügten, und es ist gleichgültig, was genau sie sich darunter vorstellt, da in jedem Fall zu attestieren ist, dass sie damit am Argument der menschlichen Grenzfälle (argument from marginal cases) scheitert. Es lässt sich wie folgt formulieren [13]:

  1. Um behaupten zu können, dass alle und ausschließlich Menschen ethische Berücksichtigung verdienen (und Tiere daher keine), müsste es eine ethisch relevante Eigenschaft X geben, die allen Menschen und nur diesen zugesprochen werden kann.
  2. Alle Eigenschaften, die Menschen auf eine ethisch relevante Weise von anderen Tieren trennen könnten, fehlen bei einigen Menschen (sogenannte menschliche Grenzfälle).
  3. Die ethisch relevanten Eigenschaften, die alle Menschen haben, müssen auch vielen Tieren zugesprochen werden.
  4. Daher gibt es keine Möglichkeit, zu behaupten, dass alle Menschen und nur diese ethische Berücksichtigung verdienen.

Berndt muss einräumen, dass die Bewusstseinszustände, von denen sie spricht, vielen Menschen nicht zugesprochen werden können, sodass sie, ihrer Logik folgend, nur eine antastbare Würde hätten.

Da es den Rahmen dieser Analyse sprengen würde, die sich nun anschließenden Verteidigungslinien umfassend zu adressieren, seien nur kurz die größten ‚Klassiker‘ adressiert:

  1. Der Mensch verfüge jedoch normalerweise über solche Bewusstseinszustände: Es bleibt unklar, warum daraus etwas für die Menschen folgen sollte, denen solche Bewusstseinszustände nicht zugesprochen werden können; schließlich wollte Berndt den ethischen Schutzwert ja gerade an das konkret vorhandene Bewusstsein binden. Des Weiteren behandeln wir Menschen mitnichten danach, was der Mensch „normalerweise“ kann, denn sonst bräuchten wir zum Beispiel keine Rollstuhlrampen.
  2. Der Mensch hat allgemein das Potential, solche Bewusstseinszustände zu haben; auch Kinder entwickeln sie mit dem Alter: Es ist wieder nicht klar, welche Bedeutung das Potential haben sollte, wenn es nicht in allen Menschen verwirklicht ist. Zu den Kindern: Nicht alle. Und manche Menschen verlieren sie aus den unterschiedlichsten Gründen auch wieder dauerhaft.
  3. Auch die sogenannten „Grenzfälle“ sind Menschen, gehören zur Spezies Mensch: Hiermit ist letztlich gesagt, dass der Mensch einen ethischen Sonderstatus hat, weil der Mensch ein Mensch ist. Warum ist der Ball rot? Der Ball ist rot, weil der Ball rot ist. Wer diese ‚Logik‘ akzeptiert, muss auch den Rassisten tolerieren, der Schwarze allein für ihr Schwarz-Sein herabwürdigt.
  4. Aber wir können Menschen nicht töten, weil Dritte darunter leiden würden: Mit dieser Verteidigungslinie wird, oft unbemerkt, die Position eingenommen, dass „menschliche Grenzfälle“ nur noch indirekten Schutzwert besäßen. Der jeweilige Mensch wäre dann nicht mehr für sich, sondern nur noch für andere schützenswert. – Zudem leiden auch Millionen Menschen darunter, was wir ‚Nutztieren‘ antun, ohne dass es dann hier ein Argument wäre.

Ob man Berndts Text nun aufgrund eines Verstoßes gegen basale Minimalanforderungen der Ethik zurückweist oder aufgrund der Tatsache, dass ihr Kernargument (Nicht-Existenz versus kurzes Leben mit gewaltsamem Ende) verfehlt ist: Solange sie diese Probleme nicht auf eine überzeugende Weise adressiert, sind die eingangs aufgelisteten und nachfolgend aufgeworfenen Fragen wiederholt zu stellen, da sie bisher nicht oder nicht befriedigend beantwortet wurden.

(n) Ja doch: Tierliebe kann durch den Magen gehen

Wenn aber garantiert ist, dass ein für den menschlichen Verzehr geborenes Tier unter Bedingungen gehalten wird, die sein Leben lebenswert machen, wenn es genug Platz und Sonne und ordentliches Futter hat, bevor es geschlachtet wird, ohne dabei allzu viel Angst und Schmerz zu erleiden, dann dürfte das Leben für das Tier wertvoller sein als der Schutz vor Leid durch Nichtexistenz. Dann tut man dem Tier keinen Gefallen, wenn man ihm das Leben ganz verwehrt - nur weil es sonst eines Tages in Schnitzel aufgeteilt und zu Hackfleisch gemacht wird. Tierliebe kann durch den Magen gehen, und sie sollte es sogar. Voraussetzung: Man isst nur ziemlich glückliche Tiere.

Denn Nutztiere können ja durchaus ein gutes Leben führen, auch wenn sie eines Tages getötet werden. Aber bis dahin empfinden sie Lebenslust, werden von ihrer Mutter geliebt, lernen laufen, balgen sich mit ihren Geschwistern, machen Erfahrungen und Entdeckungen und erfreuen sich an saftigem Gras und vollem Korn.

Es stimmt schon, selbst auf dem Bilderbuchbauernhof lebt es sich nicht ohne jede Qual. Kälber werden früh von ihren Müttern getrennt, damit sie die Milch nicht trinken, die doch für den Menschen gedacht ist (was sich mit einem höheren Milchpreis allerdings ändern ließe, weil die Bauern die Milch für die Kälber dann über längere Zeit verschmerzen könnten). Und selbst wenn sie unter besten Biobedingungen in einer Herde leben, müssen Schweine - sehr soziale Wesen! - hinnehmen, wie immer mal wieder ein Artgenosse geholt und geschlachtet wird. Wahrscheinlich haben die Schlachttiere dann Angst, auch wenn noch so viel dagegen unternommen wird, womöglich trauern die Hinterbliebenen. Selbst Rehe und Hirsche, von denen viele nur existieren, weil sie für die Jagd angefüttert werden, haben Stress. Sie müssen oft angstvoll davonspringen oder gar, wie einst Bambi, erleben, dass die Mutter erschossen wird.

Da die Autorin davon ausgeht, ihre argumentative Arbeit geleistet zu haben, wiederholt sie in diesem Abschnitt noch einmal ihr verfehltes Kernargument, bei dem wieder zu fragen ist: Warum soll bei Tieren in Ordnung sein, was bei Menschen unstatthaft ist? Ist Menschenliebe damit zu vereinen, Kinder nur als ‚Ersatzteillager‘ zu zeugen? Auch Menschen können ein glückliches Leben führen, wenn sie eines Tages getötet werden.

(o) Wer Tierrechte verteidigt, darf dies nicht nur mit Blick auf Schmerz und Leid tun

Ohnehin ist ein Tierleben ohne den Menschen nicht unbedingt schöner. Auch in der Wildnis müssen Tiere leiden und sterben - meist sind sie dann jünger, als wenn der Mensch sie tötet, um sie zu essen. Es kann passieren, dass ihre Mutter sie nicht säugen will, sie vom Auto überfahren werden, ein Artgenosse sie aufspießt oder ein Wolf sie reißt. Angenehm ist ihr Tod selten, denn Raubtiere sind nicht dafür bekannt, besonders human zu töten. Und selbst wenn ein Tier kein Opfer der Gewalt wird, ist sein Tod in der Natur alles andere als romantisch. Die meisten Tiere schlafen nicht irgendwann in hohem Alter ein, weil ihr Herz genug Schläge getan hat. Sie werden vorher krank oder verletzen sich, das geschieht in der Regel nicht ohne Leid. Wenn man Herden wilder Tiere sieht, dann sehen diese Tiere jung und gesund aus. Allerdings liegt das nur daran, dass die alten und kranken längst gestorben sind oder von Raubtieren zerlegt wurden.

Berndt weist zu Recht darauf hin, dass das Leben in der Wildnis kein Zuckerschlecken ist – eine Tatsache, die in der veganen Szene dringend mehr Beachtung finden müsste – , aber die argumentative Funktion, die dieser Abschnitt wohl erfüllen soll, kann nur mit Entschiedenheit zurückgewiesen werden.

Was in ‚der Natur‘ geschieht, kann und darf aus offensichtlichsten Gründen nicht der Maßstab für unser Verhalten sein. Während ‚die Natur‘ kein moralischer Akteur und schlicht ‚gleichgültig‘ ist, also weder Rücksicht noch Schonung oder Hilfe kennt, ist der Mensch – im Guten wie im Schlechten – zum mehr oder wenigen bewussten Umgang mit seiner Umgebung fähig.

O Mensch, du bist des Tieres höher Wesen,

Gewaltigen Willens, überreich an List –

In seinem Auge aber magst du lesen,

Ob du ihm Gott, ob du ihm Teufel bist.

(Emil Gött, [14])

Der Bewertungshorizont für unser Handeln ergibt sich daraus, wie wir bestenfalls handeln können – und nicht daraus, was in ‚der Natur‘ geschieht. Aus der Tatsache, dass das Leben in ‚der Natur‘ mitunter noch schlechter als in menschlicher Obhut ist, folgt ethisch erst einmal nichts.

Doch selbst wenn Berndts Vergleich mit dem Leben in der Wildnis pauschal Wert zuzuschreiben wäre, bliebe der implizite Punkt dieses Abschnitts eine argumentative Sackgasse. Denn: Eine Situation A oder Handlung A wird nicht schon dadurch hinnehmbar, dass darauf verwiesen werden kann, dass Situation B oder Handlung B noch schlechter ist. Drastisch gefragt: Darf man im öffentlichen WC danebenpinkeln, weil schon jemand in die Ecke gesch… hat? Ist es in Ordnung, seine Frau zu schlagen, weil andere ihre Frauen sogar vergewaltigen?

(p) Tierschützer haben in den vergangenen Jahren enorm wichtige Arbeit geleistet. Sie haben ein Umdenken in einer Gesellschaft erzeugt, in der Tiere wie Sachen behandelt wurden und ihre Empfindungen nichts wert waren. Aber wer Tierrechte verteidigt, darf dies nicht nur mit Blick auf Schmerz und Leid tun, betont Nick Zangwill: “Er darf die Freude und das Glück der Tiere nicht ignorieren, das ihrem Tod vorausgeht.” Die wenigsten Menschen würden ihr ganzes Leben infrage stellen, nur weil es mit dem Tod und auch oft mit Krankheit endet. Warum blicken wir auf Tiere nur unter diesem Aspekt?

Am Grundgebrechen dieses Textes ändert sich auch in diesem Abschnitt nichts mehr. In Anbetracht der Abwesenheit einer überzeugenden ethischen Differenzierung zwischen Mensch und Tier kann nun nur noch immer wieder auf dasselbe Problem verwiesen werden: Nach dieser Logik müsste auch das Töten von Menschen in Ordnung sein. Eine Schlussfolgerung, die Berndt nicht akzeptieren wollen wird, sodass sie entweder ihre tierethische Position anpassen oder noch einmal neu ansetzen müsste.

Darüber hinaus entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass die Autorin Tierschützern und Tierrechtlern vorwirft, sich zu sehr auf Schmerzen und Leiden zu fokussieren, nachdem sie selbst in ihrem Beitrag (siehe (b)) festhielt, dass Tiere „Freude, Lust, Schmerzen, Angst, Zuneigung und womöglich noch viel mehr“ empfinden, um lediglich zu schlussfolgern, dass man „ihnen deshalb möglichst kein Leid antun“ sollte. – Da sie ihre Betrachtungen zum Thema Leid jedoch noch weiter fortsetzt, soll an dieser Stelle ansonsten noch nicht weiter darauf eingegangen werden.

(Angemerkt sei nebenbei, dass die Verbindung von Tierschützern und Tierrechten sprachlich auffällig ist. Obwohl sich daraus nicht zwingend ein Problem ergibt, könnte sie ein Hinweis auf eine weitere begriffliche Ungenauigkeit sein. Im Zweifel für den Angeklagten.)

(q) Das Leben ist für niemanden ein Ponyhof. Auch für Menschen steht von jenem Moment an, in dem sie geboren werden, fest, dass ihnen neben hoffentlich viel Glück und Freude auch jede Menge Leid bevorsteht. Leben bedeutet Leiden, zumindest ein Stück weit. Und doch ist das Leben, auch wenn es einem zwischendurch mal sehr schlecht geht, ein Geschenk.

Leben bedeutet Leiden, und am Ende lauert der Tod – das ist richtig. Aber daraus folgt nicht, dass deswegen das gezielte Herbeiführen von Leid oder intentionale Tötungen keiner guten Rechtfertigung mehr bedürfen. Nichts von dem, was Berndt hier ausführt, leistet irgendeinen Beitrag zu dem, was sie argumentativ erreichen möchte. Das fundamentale logische Gebrechen ihres Beitrags wird davon ebenso wenig beseitigt wie das in dieser Analyse durchgängig attestierte Konsistenzproblem.

Stattdessen leisten ihre Ausführungen nur eines: Sie zeichnen ein karikaturartiges Bild von Veganern, die so realitätsfremd seien, dass man ihnen die banalsten Sachverhalte in ermüdender Breite erklären müsse. Nicht einmal Phrasendrescherei wird dem ethischen Gegenüber erspart (Stichwort: Ponyhof).

(r) Leid zu verhindern gilt als hohes Gut. Viele junge Leute ließen sich in der Zeit des Kalten Krieges sterilisieren, weil sie meinten, in diese Welt mit der Bedrohung durch Atombomben könne man keine Kinder setzen. Man könne ihnen nicht zumuten, in solcher Angst zu leben. Je nachdem, welche Ängste diese nicht gewordenen Eltern ihren Kindern vermittelt hätten, mag das im Einzelfall sogar wahr gewesen sein. Aber die allermeisten Kinder dürften doch lieber geboren werden, als dass ihnen das Leben in Anbetracht bevorstehender Probleme verwehrt bleibt. Es ist eine sehr destruktive, lebensfeindliche Haltung, Leid um jeden Preis verhindern zu wollen. Wer Leid verhindert, indem er Leben verhindert, der verhindert Glück.

Mit der Unterstellung, dass es Tierschützern, Tierrechtlern oder Veganern darum ginge, „Leid um jeden Preis verhindern zu wollen“, ist in diesem Abschnitt ein Grad an sprachlicher Vehemenz erreicht, der nach einem wirklich soliden Beleg verlangt. Und selbst wenn sich beispielsweise zeigen ließe, dass 90% der Veganer auf eine unterkomplexe Weise Leidvermeidung als ihr Hauptanliegen betrachten, würde die Autorin damit nichts gewinnen, da sie noch immer vor einem ungelösten Konsistenz- bzw. Gerechtigkeitsproblem steht und erst begründen müsste, inwiefern sich Nicht-Existenz als Schaden begreifen lässt.

(s) Bei einem Leben ohne Tiere fehlt ja auch der Umgang mit ihnen

Es sagt insgesamt viel über unsere Gesellschaft aus, dass das Fehlen von Leid so viel höher bewertet wird als die Anwesenheit von Glück. Arthur Schopenhauer definierte Glück gar als die Abwesenheit von Unglück. Befriedigung oder Beglückung könne “nie mehr seyn, als die Befreiung von einem Schmerz, von einer Noth”, schrieb er. Noch heute wird es als etwas Positives gesehen, wenn es einfach nur kein Leid gibt.

Dass wir der Vermeidung von Leid eine derartig große Bedeutung zusprechen, ist aus evolutionärer Perspektive durchaus sinnvoll. Plump gesagt: Was bereits gut ist, bedarf keiner Aufmerksamkeit mehr, während die Beachtung von Schmerzen und Leiden von größter Bedeutung für das Überleben und für die Weitergabe der eigenen Gene ist. Wer drückende oder reibende Schuhe trägt, wird keinen Spaziergang machen können, ohne darauf achten zu müssen. Wer deswegen ein neues Paar kauft, wird sich hingegen nur kurz über das angenehme Gefühl oder über die Entlastung freuen und es dann alsbald vergessen. – Jeder kann sich selbst die Frage stellen, ob er in der Position eines Kindergärtners ein weinendes Kind ignorieren würde, weil es gerade ein anderes Kind sehr glücklich macht, dass man mit ihm spielt.

(t) Beim nicht gelebten Leben von Tieren steht aber noch mehr auf dem Spiel als allein das Glück der Tiere. Es geht auch um das Glück der Menschen, die diese Tiere dann nicht mehr genießen können. Genießen ganz unabhängig vom Essen. Menschen könnten die Tiere nicht mehr beobachten und füttern, sich an ihnen erfreuen, sie streicheln und ihr Immunsystem beim Stallbesuch trainieren. Die Vorstellung, dass Kinder in einer Welt mit wenig Tieren aufwachsen, stimmt traurig. Wie sollen sie dann lernen, fremde Wesen, auch wenn man sie nicht versteht, zu respektieren, sich auf die nonverbale Kommunikation mit ihnen einzulassen und mit ihnen umzugehen? Wie können sie besser die Faszination von Tieren erleben, lernen, sie zu achten und zu bewundern, als im direkten Umgang mit ihnen?

Dieser Abschnitt dürfte neben Berndts Kernargument, dass das Geschlachtet-Werden das bessere Los als Nicht-Existenz und die ‚Nutztier‘haltung damit prinzipiell gerechtfertigt sei, wohl am meisten dazu beigetragen haben, dass dieser Artikel massenhaft fassungslose Reaktionen hervorrief. Nicht wenige Tierschützer, Tierrechtler und/oder Veganer werden sich spätestens hier gefragt haben: „Und ich soll der weltfremde Naivling sein?“

  1. Wie kommt Berndt darauf, dass ausgerechnet ‚Nutztieren‘ die Rolle zukommt, Kindern den angemessenen Umgang mit Tieren beizubringen? Wie bereits in Abschnitt (d) lässt sich der Eindruck kaum vermeiden, dass Haustiere in der Welt der Autorin keine Rolle spielen, obwohl sie es sind, die noch am ehesten diesen Zweck erfüllen. ‚Nutztiere‘ spielen in der Gesamtschau im Leben von Kindern schon allein deswegen bereits heute kaum noch eine Rolle, weil ihre Ausbeutung in der Peripherie und aus guten Gründen in der Regel im Verborgenen stattfindet.
  2. Trotz dieses Sachverhalts räumt auch Berndt ein (siehe (b) und (p)), dass in den letzten Jahren bzw. Jahrzehnten ein Wandel der Mensch-Tier-Beziehung hin zu mehr Sensibilität stattgefunden hat. Vegetarismus und Veganismus scheinen zudem in ‚westlichen‘ Ländern urbane Phänomene [15, 16, 17, 18, 19] oder zumindest in ländlichen Gegenden nicht weiter verbreitet zu sein [20]. Inwiefern sind ‚Nutztiere‘ also in dieser Hinsicht nötig?
  3. Wenn insgesamt ein besserer Umgang mit Tieren erreicht werden soll: Erweist es sich nicht als hinderlich, sie fortgesetzt grundsätzlich schlechter als Menschen zu behandeln? (Siehe hierzu das Argument der menschlichen Grenzfälle (m) und das Fazit.)
  4. Inwiefern lernen Kinder, Tiere zu achten und zu respektieren, wenn sie von klein auf lernen, dass es in Ordnung sei, sie zu töten? Das Internet ist voll mit Videos von Kindern, die weinen und/oder Widerwillen bekunden, wenn ihr ‚Nutztier‘ getötet werden soll oder wenn sie erfahren, was sie gerade auf dem Teller haben. Es scheint ‚Abstumpfung‘ in frühester Kindheit zu erfordern, damit Kinder das Töten von Tieren nicht schrecklich finden. Wollen wir das? Ist das der Weg zu einem respektvollen Miteinander? Sollen Kinder Lernen, dass Liebe mit Schlachten zu vereinen ist?
  5. Berndt bedauert, dass Menschen ihr Immunsystem nicht mehr beim Stallbesuch trainieren könnten, wenn wir keine ‚Nutztiere‘ mehr halten würden. Für wie viele Menschen ist das relevant? Welche gesundheitliche Bedeutung ist Stallbesuchen zuzusprechen? Korreliert das Arbeiten in Ställen mit besserer Gesundheit? Und am wichtigsten: Seit wann rechtfertigt ein derartiger bestenfalls bedeutungsarmer Nutzen Tötungen?

(u) Ja, Tiere zu halten und sie auch noch zu essen, bedeutet die Instrumentalisierung eines anderen Wesens. Aber im Falle von Nutztieren haben auch die Nutztiere etwas davon. Es verhält sich so, wie es schon Immanuel Kant als akzeptabel beschrieben hat: Man darf andere als Mittel für die eigenen Interessen benutzen (selbst den Taxifahrer benutzt man), solange man sie nicht nur als Mittel benutzt.

Auch nach dieser Logik müsste die Erzeugung von Menschen als ‚Ersatzteillager‘ legitim sein, wenn sie nur so das ‚Geschenk‘ des Lebens erfahren können. Da der in Abschnitt (m) vorgelegte Versuch einer Grenzziehung als gescheitert zu bewerten ist, kann Berndt sich diesem Schluss auf der Basis ihres Beitrags nicht entziehen.

Der Verweis auf den Taxifahrer ist sichtlich abwegig, da er dieser Benutzung durch andere zugestimmt hat bzw. dieser Arbeit mehr oder weniger freiwillig nachgeht. Die angemessene Analogie bleibt der Mensch als Ersatzteillager oder der Mensch als Fleischnachschub in einem Kannibalenvolk.

(Es sei zusätzlich angemerkt, dass auch Momente, in denen man Menschen nur als Mittel benutzt, ethisch unbedenklich sein können. Wer mit zwei vollen Beuteln darauf wartet, dass eine andere Person die Tür öffnet, und dann seine Gelegenheit nutzt, auch hineinzuhuschen, hat diese Person ausschließlich als Mittel benutzt, ohne dass dies eine problematische Handlung wäre.)

(v) Dass der Mensch Tiere züchtet und verspeist, ist Ausdruck einer langen Beziehung zum Wohle beider Seiten. Je näher sich die beiden dabei kommen und je besser die Menschen die Tiere behandeln, desto größer wird in der Regel die gegenseitige Zuneigung. Hass ist dagegen nicht im Spiel, nicht einmal wenn ein Mensch ein Tier höchstpersönlich tötet oder es in einem bestimmten Alter vom Metzger abholen lässt. Außerhalb der Massentierhaltung haben Kühe und Schweine auf Bauernhöfen immer noch Namen. Landwirte lieben ihre Tiere, und am Sonntag isst man eben Lisa. So ist die Beziehung zwischen Mensch und Nutztier für beide Seiten wertvoll. Der Mensch bekommt Nahrung, Leder und Wolle, das Tier genug zu fressen, Schutz - und Leben.

Mit diesen Worten beendet die Autorin ihren Beitrag, sodass es nichts Neues zu erwidern gibt. Solange sie diese Logik nicht auf Menschen übertragen will, aber das, was von ihrer Argumentation nach einer kritischen Betrachtung bestenfalls übrig bleibt, zumindest für einige Menschen ebenso gelten müsste, solange gibt es keinen Grund, nicht auch dieses Schlusswort hinzunehmen:

Dass der Mensch andere Menschen züchtet und verspeist, ist Ausdruck einer Beziehung zum Wohle beider Seiten. Je näher sich die beiden dabei kommen und je besser die Menschen die anderen Menschen behandeln, desto größer wird in der Regel die gegenseitige Zuneigung. Hass ist dagegen nicht im Spiel, nicht einmal wenn ein Mensch einen anderen Menschen höchstpersönlich tötet oder ihn in einem bestimmten Alter vom Metzger abholen lässt. Außerhalb der Massenmenschenhaltung haben Kinder auf Bauernhöfen immer noch Namen. Landwirte lieben ihre Menschen, und am Sonntag isst man eben Lisa.

So ist die Beziehung zwischen Mensch und Nutzmensch für beide Seiten wertvoll. Der Mensch bekommt Nahrung, Leder und Haare, der Nutzmensch genug zu fressen, Schutz - und Leben.

4. Christina Berndts Reaktion auf die Flut aus kritischen Rückmeldungen

Der Artikel verbreitete sich bereits kurz nach der Veröffentlichung wie ein Lauffeuer, provozierte in einem schier unglaublichen Umfang zornige oder spöttische Kommentare und veranlasste gleich mehrere große Organisationen aus dem Bereich Tierschutz, Tierrechte und Veganismus zu mehr oder weniger umfassenden, aber durchgängig entschieden widersprechenden Repliken. Christina Berndt scheint die Reaktionen auf ihren Beitrag wenigstens in einem gewissen Umfang verfolgt zu haben und veröffentlichte über den Instagram-Account der Süddeutschen Zeitung einen ergänzenden Kommentar, der recht präzise widerspiegelte, in welchem Umfang nicht verstanden wurde, worum es der Autorin in ihrem Text letztlich ging. [3] Auch dieses Statement sei noch kurz betrachtet, um noch einmal zu verdeutlichen, dass die hier vorgelegte Analyse diesen Fehler nicht begangen hat und den Punkt adressierte, den Berndt auch wirklich machen wollte.

(w) Wenn es um Massentierhaltung, Klimaschädlichkeit sowie den Wasserverbrauch und den Energiequotienten fleischlicher Nahrung geht, dann ist dem Fleischkonsum auch aus meiner Sicht rein gar nichts abzugewinnen. Ich betone in meinem Essay deshalb auch, dass Massentierhaltung und industrielle Tierhaltung entsetzlich sind und abgeschafft gehören. Tierhaltung muss Tierwohl bedeuten, und aus diesem Grund ebenso wie aus Gründen des Klima- und des Umweltschutzes muss der Fleischkonsum deutlich reduziert werden.

Berndt wurde flächendeckend vorgeworfen, eine Verteidigung der aktuellen Miss- bzw. Zustände verfasst zu haben. Wo dies nicht geschah, wurde sie dennoch mehrheitlich und unnötigerweise darauf hingewiesen, wie übel der Status quo doch sei. Aus diesem Grund betonte sie hier ein weiteres Mal, dass sie die ‚Nutztier‘haltung, wie sie heute in der Regel stattfindet, weder ökologisch noch ethisch für vertretbar hält. (Zu fragen wäre jedoch, wie wohl dem Tier wohl bei seinem vorzeitigen gewaltsamen Ende ist. Der zynische Charakter des Begriffs Tierwohl lässt sich auch nicht unter hunderten blumigen Zeilen verbergen, wenn es um die ‚Nutztier’haltung geht.)

(x) [Lob für die Süddeutsche gekürzt, da ohne jede sachliche Relevanz.] Mir ging es in dem Text allerdings darum, das Thema auf eine andere Ebene zu heben, nämlich auf die Ebene der großen Fragen zum Verhältnis von Glück und Leid, Leben und Tod – und ob es vor diesem Hintergrund tatsächlich im Sinne der Tiere ist, wenn wir sie nicht mehr essen und sie deshalb ihrer gesamten Existenz beraubt werden. Wenn wir alle gar keine Tiere mehr essen, gibt es eben auch keine zum Verzehr gezüchteten Bioschweine mehr, die bis zu ihrem Tod ein gutes Leben haben. Und ob das für diese (!) Schweine wirklich von Vorteil ist, darüber lohnt es sich meines Erachtens zumindest einmal nachzudenken. Ich verstehe aber, wenn Leser*innen das Töten von Tieren grundsätzlich ablehnen und wenn ihnen das Thema in einer Zeit zu fern ist, in der wir natürlich weit weg davon sind, dass alle Menschen zu Vegetarier*innen würden, und leider auch sehr weit weg davon, Tiere so zu halten, wie es aus ethischer, sozialer und ökologischer Sicht geboten wäre.

Berndts Ausführungen suggerieren, dass sie einfach nur einen Gedanken zur Diskussion stellen, dass sie einfach nur offen über einen vielleicht zu wenig beachteten Aspekt nachdenken wollte. Sie hat jedoch keine offenen Fragen gestellt und nicht lediglich etwas zum Weiterdenken angeboten, sondern sie hat sich festgelegt. Sie hat versucht, eine in sich schlüssige Position vorzulegen und dabei ihr Gegenüber bisweilen wie ein naives Kleinkind behandelt, dem man erst noch die Welt erklären müsste. Sie erntete keine Kritik dafür, dass sie nur einen Gedanken zur Diskussion stellen wollte – sie präsentierte einen abgeschlossenen Gedankengang, hinter dessen Ergebnis sie sich voll und ganz gestellt hat. Dafür wurde sie, wenn auch oft verfehlt, kritisiert.

Bemerkenswert ist des Weiteren, dass Berndt es nicht für nötig hielt, die bereits zu diesem Zeitpunkt dutzendfach berechtigterweise angebrachte Kritik auch nur mit einer Silbe zu erwähnen, wenn sie doch nur öffentlich sinnieren wollte; dass ihr Kernargument ein gewaltiges Problem aufweist, wurde bereits direkt nach der Veröffentlichung immer und immer wieder hervorgehoben. Stattdessen gibt Berndt zu erkennen, dass sie unverändert zu ihrer Position steht: Unsere Zeit sei „leider auch sehr weit weg davon“, „Tiere so zu halten, wie es aus ethischer […] Sicht geboten wäre.“ Veganer und Tierrechtler werfen gerade die Frage auf, ob es nicht ethisch geboten ist, die ‚Nutztier’haltung so weit wie möglich einzustellen. Berndt müsste erst zeigen, warum die ‚Nutztier’haltung überhaupt statthaft sein sollte, bevor sie das Wie der Haltung diskutiert. Ihr Artikel leistete dazu keinen Beitrag.

5. Fazit und abschließende Gedanken

Christina Berndt versuchte in ihrem Artikel dafür zu argumentieren, dass ein gutes, wenn auch nicht leidfreies Leben als ‚Nutztier‘ trotz gewaltsamem Ende der Nicht-Existenz vorzuziehen sei. Das fundamentale Gebrechen ihres Gedankens übersehend (niemand leidet unter seiner Nicht-Existenz), bemerkte sie jedoch wenigstens, dass ihre Überlegungen auch Auswirkungen auf den Humanbereich haben müssten, weswegen sie über einen zweistufigen Würdebegriff versuchte, eine Grenze zwischen Mensch und Tier zu ziehen. Da sich auch diese Grenzziehung unter Verweis auf das Argument der ‚menschlichen Grenzfälle‘ als unzulässig verwerfen ließ, ist Berndts Position insgesamt zurückzuweisen.

Solange es nicht gelungen ist, das Problem der ‚menschlichen Grenzfälle‘ auf eine befriedigende Weise aufzulösen, gibt es keine Rechtfertigung dafür, Tiere grundsätzlich schlechter als Menschen zu behandeln. Es erweist sich dann als notwendig, auf einen Ansatz zurückzugreifen, wie ihn beispielsweise Leonard Nelson mit seinem „Gebot der gerechten Abwägung“ [21] formuliert hat, ohne dabei Konsistenzfragen auszublenden:

„Handle nie so, dass du nicht auch in deine Handlungsweise einwilligen könntest, wenn die Interessen der von ihr Betroffenen auch deine eigenen wären.“

Sollte sich keine ethisch überzeugende Grenze zwischen Mensch und Tier ziehen lassen, stehen wir folglich vor der Herausforderung, zu klären, unter welchen Bedingungen welche Formen der Tiernutzung mit all ihren Schattenseiten statthaft sein könnten, statt uns pauschal ein Nutzungsrecht zuzusprechen, das einzig und allein an die Bedingung geknüpft ist, dass die Tiere bis zu ihrer Schlachtung ein gutes Leben geführt haben. Die Alternative wäre eine Aufweichung der Humanethik bzw. der Menschenrechte, die Berndt wohl kaum wünschen wird. Um weitere Wiederholungen zu vermeiden und da diese Analyse ohnehin schon den Umfang eines kleinen Büchleins erreicht hat, sei abschließend nur noch ein letztes Problem angesprochen, auf das im bisherigen Text bislang lediglich fragend hingewiesen wurde.

Berndt wünscht sich eine bessere Mensch-Tier-Beziehung und geht davon aus, dass ein guter, flächendeckender, wenn auch reduzierter Umgang mit ‚Nutztieren‘ mit der menschlichen ‚Natur‘ vereinbar ist. Doch es ist zu befürchten, dass es gerade die Nutzung als Lebensmittellieferant ist, die selbst noch in ihrer schonendsten Form der Entwicklung einer besseren Mensch-Tier-Beziehung im Wege steht. Denn die schon von Magnus Schwantje (1877-1959) formulierte Einschätzung, [22] dass nichts

„den Menschen so unfähig [macht], die Seele des Tieres zu verstehen wie die Gewohnheit des Fleischessens. Um nicht einsehen zu müssen, daß sie durch ihre Lebensweise an grauenhaften Qualen tief fühlender, liebenswürdiger, kluger Wesen mitschuldig werden, verschließen die meisten Fleischesser ihre Augen vor den Tatsachen, welche die höheren seelischen Fähigkeiten der Tiere, besonders ihre Leidensfähigkeit, erkennen lassen“,

scheint sich zumindest tendenziell zu bewahrheiten. So hieß es selbst in einer für das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft erstellten Studie [23]:

Manche Landwirte begegnen den persönlichen Wertekonflikten, indem sie sich auf Rationalisierungen oder ein Herunterspielen der gängigen Tierhaltungsprobleme zurückziehen und sowohl sich selbst als auch die Gesellschaft mit wirtschaftlichen Argumenten trösten. Sie beschwichtigen damit, dass mit den Tieren auch Geld verdient werden müsse oder dass Nutztierhaltung deutlich von Heimtierhaltung abzugrenzen sei. Teilweise kann sich sogar eine Gleichgültigkeit gegenüber den Tieren und ihren Bedürfnissen entwickeln. Vielfach werden Vorwürfe seitens der Gesellschaft schlichtweg abgestritten.

Eine weitere Form, mit dem eigenen Wertekonflikt umzugehen, ist die Bevorzugung einzelner Tiere: Sich um einzelne, ausgewählte Tiere im Bestand besonders intensiv zu kümmern, diese besonders zu beobachten und ihnen Zuwendung zu geben, scheint die tierbetreuenden Personen zu entlasten, ihnen ein gutes Gefühl zu geben und Arbeitszufriedenheit zu schaffen. Teilweise schützen sich Betroffene vor ihrem eigenen Wertekonflikt durch die Weitergabe von Verantwortung, z. B. an die Gesetzgebung oder an die Verbraucherschaft, bei der sie eine fehlende Zahlungsbereitschaft für höhere Tierwohlleistungen sehen.

Die Psychologin Tamara Pfeiler fasste das Problem im Einklang mit den vorherigen Ausführungen für Fleischesser [24] so zusammen:

Auf psychologischer Ebene werden in der Forschung verschiedene Mechanismen beschrieben, wie es Menschen gelingt, sich von diesem moralischen Konflikt zu distanzieren, um die Auseinandersetzung mit dem eigenen Konsum zu unterbinden. So gelten nur einige (wenige) Tierarten als essbar, denn es wird nur das Fleisch von bestimmten Säugetierarten (zum Beispiel Schwein, Rind), Vögeln wie dem Huhn und verschiedenen Fischarten oder Meerestieren verzehrt. Diese Kategorisierung in essbar und nicht essbar ist eine von Menschen gemachte, sie variiert zwischen Kulturen und hat nichts mit den tatsächlichen Fähigkeiten der Tiere zu tun. Studien zeigen, dass den traditionell als essbar eingestuften Tieren (etwa Schwein) wichtige Fähigkeiten abgesprochen werden, die sie mit Menschen teilen – beispielsweise Intelligenz, Empfindungsfähigkeit und Emotionen. Liegt dagegen bei der Beschreibung eines Tieres der Fokus auf den psychologischen Eigenschaften wie Intelligenz oder Persönlichkeit, kann die Bereitschaft, dieses Tier zu essen, abnehmen oder gar bei der Vorstellung, es zu essen, Ekel auslösen.

Die Forschung geht davon aus, dass dieses Phänomen (das Absprechen von eben jenen Eigenschaften) wichtig ist, um sich moralisch von der Gewalt gegen Tiere zu distanzieren und somit das eigene Verhalten, Fleisch zu verzehren, zu rechtfertigen. Aber auch die Auseinandersetzung mit dem allgemeinen Fleischkonsum und dem damit einhergehenden moralischen Konflikt wird durch diesen Mechanismus unterbunden.

Im deutschsprachigen Raum hat sich der Soziologe Marcel Sebastian eingehend mit der Arbeit im Schlachthaus beschäftigt und sagt [25]:

Fast alle interviewten Schlachthofarbeiter sagten von sich, das Töten von Tieren mache ihnen nichts aus. Es stellte sich aber heraus, dass alle von ihnen Techniken nutzen, um emotionale Distanz gegenüber den Tieren herzustellen. Wichtig war hier etwa, keine individuellen Beziehungen zu Schlachttieren zuzulassen und diese vor allem als Werkstoffe zu betrachten, deren Zweck es ist, zu Fleisch verarbeitet zu werden. Dies gelang den Interviewpartnern unter normalen, routinierten Bedingungen. Interessant war, dass dieser ‚emotionale Normalbetrieb‘ des Schlachtens zeitweise unterbrochen wurde und die Arbeit emotional deutlich herausfordernder wurde – etwa, wenn Jungtiere geschlachtet werden mussten. Auch meine Frage, ob sie sich vorstellen könnten, Hunde zu schlachten, verneinten die Interviewpartner entschieden. Auffallend war, dass alle Interviewpartner schon in der Kindheit oder Jugend mit dem Schlachten von Tieren Kontakt hatten. Meist wurde auf dem eigenen Hof geschlachtet oder Familienmitglieder arbeiteten im Schlachthof und vermittelten so früh die entsprechenden Ideen und Einstellungen gegenüber dem Schlachten.

Es ist insofern zu befürchten, dass Berndts zumindest in dieser Hinsicht ideale Welt schon allein deswegen ein fiktives Szenario bleiben wird, weil der dafür nötige mentale Spagat nicht mit der menschlichen ‚Natur‘ zu vereinen sein könnte. Daraus ergibt sich schließlich auch die humanethische Frage, was wir Menschen antun, wenn wir sie für unseren Konsum diese Arbeit leisten lassen. Wer einmal Gail. A. Eisnitz’ Buch Slaughterhouse [26], welches Gespräche mit Schlachthausarbeitern wiedergibt, gelesen hat, wird über diese Frage nicht so leichtfertig hinweggehen, wie es Berndt in ihrem Artikel getan hat.

Quellen

  1. Christina Berndt, Wer Tiere liebt, sollte sie essen, 23. April 2022. Abzurufen unter: https://www.sueddeutsche.de/leben/veganismus-tierethik-vegetarier-schweisfurth-veganer-tierwohl-tiere-essen-ernaehrung-1.5569879?reduced=true 

  2. https://youtu.be/l3FpYpZSdI0 

  3. https://www.instagram.com/p/Cc4yQk-NQLg/  2

  4. https://animalequality.de/blog/wen-wir-lieben-wollen-wir-nicht-essen/ 

  5. Leslie Stephen, Social Rights and Duties: Addresses to Ethical Societies, London 1896, Band 1, S. 236. Die Übersetzung ist zitiert nach: Peter Singer, Praktische Ethik, Stuttgart 1994, S. 160. 

  6. Henry S Salt, The Humanities of Diet: Some Reasonings and Rhymings, Manchester 1914. 

  7. In: The Conservator, Band 7, Nr. 3 (Mai 1896), S. 42. 

  8. https://www.spiegel.de/wissenschaft/natur/artensterben-jaehrlich-verschwinden-58-000-tierarten-a-982906.html 

  9. https://www.deutschlandfunkkultur.de/biodiversitaet-artensterben-folgen-100.html 

  10. Udo Pollmer, Georg Keckl und Klaus Alfs, Don’t go veggie. 75 Fakten zum vegetarischen Wahn, Stuttgart 2015, S. 112. 

  11. Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe, hrsg. von Karl Richter, München 1987, Band 2.2, S. 356. 

  12. Bundesverwaltungsgericht (1997) Urteil vom 18.06.1997, 6 C 5.96. Abzurufen unter: http://datenbank.flsp.de/flsp/lpext.dll/Infobase8/p/prufling%20__klammerauf__gewissensfreiheit__klammerzu__/539nr1?fn=document-frame.htm&f=templates&2.0# 

  13. Angepasste Übersetzung nach: Scott D. Wilson, Animals and ethics, in: Internet Encyclopedia of Philosophy. A peer-reviewed academic resource. Abzurufen unter: https://web.archive.org/web/20200210043005/https://www.iep.utm.edu/anim-eth/ 

  14. Emil Gött, Gesammelte Werke, hrsg. von Philipp Harden-Rauch, Strassburg 1943, S. 87. 

  15. https://mobil.bfr.bund.de/cm/350/vegane-ernaehrung-als-lebensstil-motive-und-praktizierung.pdf 

  16. https://www.phw-gruppe.de/newsbereich/de/phw-stellt-neue-veggie-studie-vor/ 

  17. https://www.veganfoodandliving.com/features/the-growth-of-veganism/ 

  18. https://frw.studenttheses.ub.rug.nl/3197/1/Mapping%20vegetarianism_finalversion_sent.pdf 

  19. https://www.bmel.de/SharedDocs/Downloads/DE/_Ernaehrung/forsa-ernaehrungsreport-2021-tabellen.pdf?__blob=publicationFile&v=2 

  20. https://www.boell.de/sites/default/files/2022-01/Boell_Fleischatlas2021_V01_kommentierbar.pdf 

  21. Leonard Nelson, Gesammelte Schriften in neun Bänden, hrsg. von Paul Bernays et al., Fürth 1970, Band 5, S. 143. 

  22. Magnus Schwantje, Gesammelte Werke. Band 1: Vegetarismus, hrsg. vom Magnus-Schwantje-Archiv, München 1976, S. 146-147. 

  23. https://www.sociallab-nutztiere.de/fileadmin/sociallab/Dokumente/F_SocialLab_25-Februar-2019_web.pdf 

  24. Tamara Pfeiler, Psychologische Aspekte des Mensch-Tier-Verhältnisses. Am Beispiel des Fleischkonsums, in: Elke Diehl und Jens Tuider (Hrsg.), Haben Tiere Rechte? Aspekte und Dimensionen der Mensch-Tier-Beziehung, Bonn 2019, S. 82-92, hier S. 83. 

  25. https://www.graswurzel.net/gwr/2020/08/schlachthausarbeit-toeten-im-akkord/ 

  26. Gail A. Eisnitz, Slaughterhouse: the shocking story of greed, neglect, and inhumane treatment inside the US meat industry, Amherst/New York 2007. 

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