Sind Tierversuche zulässig? Eine prinzipielle Perspektive

Tierethik & Veganismus · December 6, 2022

Einleitung

Die ethische Frage nach der Zulässigkeit von Tierversuchen geistert regelmäßig durch die Medien und findet immer wieder Eingang in den öffentlichen Diskurs.

Dementsprechend wenden sich Menschen auch immer wieder an die Betreiber von geschätzten Social-Media-Accounts, um in Erfahrung zu bringen, wie die jeweilige Person Tierversuche einordnet. Solche Rückfragen spiegeln vor dem Hintergrund der durchschnittlichen Ernährung auf irritierende Weise das Unbehagen wider, das mit der Forschung an Tieren verbunden ist.

Als Beispiel für solche Rückfragen kann der folgende Beitrag von Instagram dienen, der eine gute Gelegenheit darstellt, das Thema nochmal auf grundsätzliche Weise aufzugreifen:

Portait James Granger

Gespräche über ethische Fragen scheitern für gewöhnlich daran, dass das Gegenüber zwar Wertvorstellungen hat, aber nicht wirklich weiß, welchem Zweck sie in der Gesamtschau dienen und welchen Regeln sie gerecht werden müssten, um diesen Zweck erreichen zu können. Es ist daher sinnvoll, zunächst an dieser Stelle anzusetzen. Zu fragen ist also an erster Stelle: Wozu Ethik? Und an zweiter Stelle: Was sind die Voraussetzungen dafür, uns diesem Ziel annähern zu können?

Die Beantwortung der Frage, was unser Handeln im Allgemeinen, im Großen und Ganzen antreibt, um das Wozu der Ethik zu benennen, scheint auf den ersten Blick an einer unüberwindbaren Hürde zu scheitern: Der naheliegende Versuch, sich über eine Erhebung von Selbstauskünften Orientierung zu verschaffen, wird eine solche Vielfalt an Antworten hervorbringen, dass es aussichtslos erscheint, so etwas wie einen gemeinsamen Nenner auszumachen. Bei genauerer Betrachtung liegt dieser nichtsdestotrotz vor, denn es wird Einigkeit darüber bestehen, dass es uns letztlich darum geht, ein gutes, ein gelingendes Leben zu führen, auch wenn darunter jeweils etwas sehr Unterschiedliches verstanden werden wird. – Der Wert einer ethischen Position oder eines ethischen Ansatzes wäre demnach danach zu bemessen, inwiefern sie oder er dazu geeignet ist, gutes Leben zu fördern. Dies wäre ihr Wozu, ihr Ziel.

Um sich diesem Ziel annähern zu können oder um es gar zu erreichen, ist es notwendig, dass uns die Ethik Auskunft darüber gibt, wie wir handeln sollen. Der Ethik kommt also die Aufgabe zu, Gebote, Verbote, Empfehlungen etc. auszuformulieren und zu begründen. Damit dieses Unterfangen gelingen kann, ist es notwendig, sich an gewisse Minimalstandards der Wissenschaft bzw. an Grundregeln des rationalen Diskurses zu halten, um Willkür zu vermeiden. Denn dort, wo Willkür herrscht, kann es keinen erfolgreichen Austausch geben, und dort, wo Willkür herrscht, kann es keine Basis dafür geben, das Handeln anderer zu beklagen. Denn: Auf welcher Basis sollte ich mich beklagen, wenn Regellosigkeit herrscht?

Zu bedenken ist darüber hinaus, dass selbst die Naturwissenschaften ohne Werte bzw. ohne Moral oder idealerweise Ethik sinnlos blieben: Sie könnten lediglich dauerhaft nutzloses Wissen anhäufen, da naturwissenschaftlich nicht zu klären ist, wie dieses Wissen genutzt werden soll. Die Naturwissenschaften verdanken ihren Wert für unser Leben unabänderlich Außernaturwissenschaftlichem.

Es lassen sich folglich gute Gründe dafür anführen, dass sich der Wert der Ethik kaum überschätzen lässt. Umso wichtiger ist es, die ‚Spielregeln‘ des Nachdenkens über die Fragen der Ethik klar abzustecken. Als unstrittig erweisen sich dabei zumindest diese drei Minimalkriterien:

  • Konsistenz: Von einer Position, die Anspruch darauf erhebt, ethisch ernst genommen zu werden, ist zu verlangen, dass ihre Aussagen konsistent sind, dass sie sich also nicht logisch widersprechen.
  • Kohärenz: Von einer Position mit ethischem Geltungsanspruch ist zu fordern, dass ihre Aussagen ein kohärentes Ganzes ergeben, also in einem sachlichen Zusammenhang zueinander stehen beziehungsweise einen ‚roten Faden‘ erkennen lassen und nicht einfach nur zusammenhanglose ‚Einzelelemente‘ darstellen.
  • Luzidität: Von einer Position, die einen Beitrag zum ethischen Diskurs leisten soll, wird man erwarten können, dass die von ihr verwendeten Begriffe luzide, also verständlich, klar und eindeutig sind. Begriffe müssen demnach, wo nötig, definiert werden.

Die Frage nach der Zulässigkeit von Tierversuchen

Auf der Basis dieser Überlegungen ist es nun möglich, sich prinzipiengeleitet der Frage nach der Zulässigkeit von Tierversuchen und den von dem gezeigten Beitrag aufgeworfenen Problemen zu widmen.

„Weswegen man sich dann fragen muss, welchen Wert Tiere im Vergleich zu Menschen haben. [Der Beitrag ist aus dem Gesamtkontext gerissen, sodass der Satz hier in isolierter Form merkwürdig erscheint.]
Kommt man hier zu dem Schluss, dass sie gleichwertig sind, wird es vermutlich schwer, Tierversuche zu akzeptieren.“

Die entscheidende Frage vor dem Hintergrund dieser Zeilen lautet: Gibt es einen ethisch tragfähigen Grund, Menschen grundsätzlich einen höheren Schutzwert als anderen Tieren zuzusprechen, sodass sich bei ihnen legitimerweise verbietet, was bei anderen Tieren gestattet ist? Oder bewahrheitet sich, was der Philosoph Bertrand Russell mit den folgenden Worten festhielt?

„Es gibt keinen sachlichen Grund dafür, davon auszugehen, dass die Interessen von Tieren weniger relevant sind als die Interessen von Menschen. Wir können sie leichter töten als sie uns; das ist die einzige stichhaltige Grundlage für unseren Anspruch auf Überlegenheit. […] Letzten Endes stützen sich alle [bisherigen/üblichen] Ethik-Modelle auf das Recht des Stärkeren.“ (Übersetzung durch den Verfasser.)

Was begründet also den ethischen Sonderstatus des Menschen? Eine Standardantwort auf die Frage lautet: Das Menschsein an sich, die Zugehörigkeit zur Spezies. Dass diese Antwort nicht befriedigt, erhellt sofort. Der Mensch soll einen ethischen Sonderstatus haben, weil der Mensch ein Mensch ist. Eine Antwort, die wir in anderen Kontexten zu Recht als wertlos verwerfen würden. „Warum ist der Ball rot?“ „Der Ball ist rot, weil der Ball rot ist.“ Ein derartiges ‚Begründungsmuster‘ würde auch im Humanbereich die größten Scheußlichkeiten rechtfertigen: „Warum sind Frauen/Schwarze/Juden/etc. weniger wert?“ „Frauen/Schwarze/Juden/etc. sind weniger Wert, weil Frauen/Schwarze/Juden/etc. Frauen/Schwarze/Juden/etc. sind.“ Und wer sich ehrlich die Frage stellt, wofür sie oder er ethisch berücksichtigt werden möchte, wird zu der Einsicht gelangen, dass es mitnichten die bloße Spezieszugehörigkeit oder das Mensch-Sein an sich ist. Das Mensch-Sein ist jedoch mit Eigenschaften verbunden, die einem etwas bedeuten: Das Haben von Interessen, Leidensfähigkeit usw. usf.

Der Haken ist nun: Wir teilen uns diese Eigenschaften mit den anderen Tieren, sodass es unstatthaft erscheint, eine klare ethische Grenze zwischen Mensch und Tier zu ziehen. Der Versuch, diesem Problem zu entgehen, nimmt im Normalfall die Form an, dass nun versucht wird, konkrete Eigenschaftsunterschiede zu benennen. Der Mensch ist schließlich als das einzige Wesen auf diesem Planeten in einem anspruchsvolleren Sinne moralfähig, der Mensch sei intelligenter als andere Tiere, …

Unabhängig davon, welche Eigenschaft in diesem Kontext vom Gegenüber benannt wird: Sie wird sich einer dieser Kategorien zuordnen lassen: Sie ist entweder ethisch nicht ausreichend relevant, da das Gegenüber sie, insofern es redlich auftritt, nicht als Kriterium akzeptieren wird, sobald es selbst in der Rolle des Opfers ist, oder sie scheitert am „Argument der menschlichen Grenzfälle“. Das heißt: Egal, welche konkrete ethisch durchaus relevante Eigenschaft Menschen von anderen Tieren trennen soll: Es gibt Menschen, denen diese Eigenschaft fehlt. Viele Menschen sind genauso moralunfähig wie Tiere, nicht alle Menschen sind intelligenter als Tiere, …

Der sich sogleich anschließende Rettungsversuch lautet üblicherweise: „Aber wenn wir das bei Menschen machen würden, würden Angehörige bzw. Dritte darunter leiden.“ Alternativ: „Unsere Gesellschaften könnten so nicht funktionieren. Wir benötigen im Humanbereich solche Grenzen.“ – Wer diesen Fluchtweg wählt, erklärt unbemerkt geistig schwerstbehinderte Menschen und Säuglinge zu nur noch indirekt schutzwürdigen Wesen. Sie sind nicht mehr für sich selbst, sondern nur noch für andere oder für das große Ganze schutzwürdig. Eine Position, die nur wenige bereitwillig einnehmen, nachdem sie diese Implikation verstanden haben.

Mit anderen Worten und zusammengefasst: Der Versuch, eine harte Mensch-Tier-Grenze zu ziehen, verläuft ergebnislos. Die üblichen Ausflüchte laufen ansonsten auf Positionen hinaus, die keinerlei Aussicht auf gesellschaftliche Akzeptanz haben und die allgemeinen Menschenrechte infrage stellen. – Festzuhalten ist darüber hinaus, dass sich die Frage folglich nicht auf diese Weise stellt. Die Orientierung an den Speziesgrenzen ist aufgrund der erheblichen Eigenschaftsüberlappungen als zu grob zu verwerfen, sodass sich die Frage eher auf individueller Ebene stellt. Aus unterschiedlichen Eigenschaften ergibt sich in unterschiedlichen Kontexten ein unterschiedlicher Schutzwert. Und dies gilt nicht nur bei der Betrachtung von Mensch und Tier, sondern auch schon innerhalb der rein menschlichen Sphäre, so ungewohnt solche Worte auch erscheinen mögen.

„Man muss aber auch realisieren, dass eine tierversuchsfreie Welt für Menschen mehr Leid bedeutet.“

Das ist grundsätzlich erst einmal richtig, aber es gilt analog auch und noch mit größerer Relevanz diese Aussage: Man muss aber auch realisieren, dass eine menschenversuchsfreie Welt für Menschen mehr Leid bedeutet. Schließlich entfiele unter anderem das nicht zu unterschätzende Übertragbarkeitsproblem.

Bis zur Auflösung dieses Problems liegt folglich ein unbegründeter Doppelstandard und somit Willkür vor, da wir, von scheußlichen historischen Ausnahmen abgesehen, keine unfreiwilligen Menschenexperimente durchführen, obwohl ihr Nutzen zweifelsfrei größer wäre. (Darüber hinaus wäre noch zu adressieren, dass „Leid“ ein hochproblematischer Grundbegriff der Ethik ist, aber diese Ausführungen können an dieser Stelle unterbleiben, da sie woanders mehrfach vorgenommen wurden.)

„Daher muss der potenzielle Nutzen gegen den Schaden abgewogen werden, was in solchen Fragestellungen natürlich nicht einfach ist.“

So folgerichtig dieser Schluss auch erscheinen mag: Das „Daher“ ist gegenstandslos, da es gegen das Konsistenzkriterium verstößt. Wir folgen dieser Logik im Humanbereich nicht, da wir der Abwägung weitestgehend oder gänzlich entzogene Grenzen gezogen haben, die nur dann nicht auch für Tiere Geltung beanspruchen können, wenn sich ein ethisch relevanter Unterschied benennen lässt. Dies ist nicht der Fall, wie bereits ausgeführt wurde.

„Und nur bei verantwortungsvollem Umgang mit den Tieren und wenn es keine Möglichkeit gibt, das Experiment auch tierfrei durchzuführen halte ich Tierversuche im medizinischen Kontext für ethisch vertretbar.“

Da auch hier das Konsistenzproblem wieder zuschlägt und sich der Argumentationsgang nur wiederholen würde, kann an dieser Stelle zum Fazit übergegangen werden. Es sei nur vorher darauf hingewiesen, dass die hier formulierte Kritik und dass die bisherigen Ausführungen keineswegs als abschätzige Behandlung des Beitrags missverstanden werden sollten. Er endete mit einer Anfrage an zwei Personen, die unmissverständlich in einem gewaltigen Umfang Tierversuchsgegner sind, sodass hier ebenso unmissverständlich einfach eine Überlegung offen zur Diskussion gestellt wurde. Eine Haltung, die es anzuerkennen gilt und die zu wertschätzender Freundlichkeit verpflichtet.

Fazit

Zusammengefasst: Die Ethik ist die notwendige Grundlage für gelingendes, gutes Leben. In Anbetracht dieser nicht zu überschätzenden Bedeutung ist es erforderlich, ihr den Ernst entgegenzubringen, den sie aufgrund dieses Stellenwerts verdient. Dazu gehört es unweigerlich, dafür zu sorgen, dass Willkür, so gut es eben geht, ausgeschlossen wird, wobei insbesondere dem Aspekt Konsistenz/Widerspruchsfreiheit Beachtung zu schenken ist. Wird dies getan, zeigt sich, dass wir vor dem Hintergrund der geltenden Humanethik keine rationale Basis dafür haben, Tierversuche für ein statthaftes Mittel zu halten. Es liegt ein Verstoß gegen den Grundsatz der Gerechtigkeit schlechthin vor: Gleiches gleich, Ungleiches ungleich. Die Auflösung dieses in der Praxis bestehenden Doppelstandards ist auf zwei Wegen möglich: über eine Verwässerung der Humanethik oder über eine Stärkung der Tierethik. Welchen Weg der Verfasser dieser Zeilen wählt, darf als bekannt gelten.


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