Minderwertige pflanzliche Nährstoffe

Tierethik & Veganismus · May 22, 2021

Einleitung

Der antivegane Einwand, um den es heute gehen soll und der mir als ‚knifflig‘ zugeschickt wurde, lässt sich kurz und knapp so zusammenfassen: Die Nährstoffe von tierischen Lebensmitteln können vom menschlichen Körper besser aufgenommen werden. Los geht’s:

Wenn man merkt, dass es einem schwer fällt, einen bestimmten Einwand sofort zu entkräften, ist es ratsam, an erster Stelle den Fokus zu wechseln: Wer mit so einem Einwand konfrontiert wird, möchte erwartungsgemäß sofort etwas erwidern, doch man fährt besser damit, zuerst den Einwand genauer zu betrachten, selbst wenn man meint, ihn schon direkt ganz erfasst zu haben. Analyse vor Erwiderung! Also betrachten wir den eigentlich sachlich direkt klaren Einwand nochmal in Ruhe:

Der Einwand, um den es hier geht, stellt eine naturwissenschaftlich überprüfbare Behauptung auf. Daraus folgt zunächst, dass man auf naturwissenschaftlicher Basis auf ihn reagieren kann und muss. Der Stolperstein, der an dieser Stelle lauert, ist nun jedoch folgender: Der Veganismus ist kein naturwissenschaftliches Anliegen, sondern sein Fundament ist ein anderer Wissenschaftsbereich: die Ethik. Eine vernünftige Tierethik wird sich zwar auf die Erkenntnisse der Naturwissenschaften stützen, aber aus ihnen allein lässt sich nichts Ethisches ableiten.

Die Naturwissenschaft kann uns sagen, was IST, aber sie kann uns nicht sagen, was sein SOLL. Das heißt: Wenn es beim Veganismus um die Ethik geht, kann ein naturwissenschaftlicher Einwand nur dann greifen, wenn aus dem naturwissenschaftlich nachgewiesenen Sachverhalt auch etwas ethisch Relevantes folgt. Und hier lauert nun der zweite Stolperstein: Selbst WENN sich ein Sachverhalt als ethisch relevant erweist, folgt daraus NOCH NICHT, dass der Einwand AUSREICHEND relevant ist.

Diese Analyse gibt uns nun den Fahrplan vor, wie wir zu verfahren haben, um das Argument angemessen zu betrachten:

  1. Ist der Einwand naturwissenschaftlich haltbar?
  2. Ist der Einwand ethisch relevant?
  3. Wenn ja: Ist der Einwand ethisch AUSREICHEND relevant?

1.) Ist der Einwand naturwissenschaftlich haltbar?

Es dürfte wohl zumindest fast jedem bekannt sein, dass es in unserer Nahrung unterschiedliche Eisenformen gibt – und dass sie unterschiedlich gut aufgenommen werden. Es ist weitestgehend allgemein bekannt, dass es zum Beispiel in Fleisch Eisen gibt, das besser aufgenommen wird. Wir können also direkt festhalten: Ja, es gibt zumindest einen Nährstoff, bei dem das der Fall ist. Richtig ist aber auch: Es gibt Möglichkeiten, die Aufnahme des Eisens aus pflanzlichen Lebensmitteln zu fördern (zum Beispiel Vitamin C).

Ich möchte an dieser Stelle gar nicht tief in die Materie einstiegen, da es nicht nötig ist, dutzende Details zu besprechen. Es kann schlicht ganz grundsätzlich festgehalten werden: Ja, die Nährstoffe in Pflanzen können weniger gut verfügbar sein als die in Fleisch. Aber es seien wenigstens noch 2 Gründe angeführt:

a) Die Zellwände von Pflanzen sind recht robust. Es gelingt unserem Körper nicht immer, sie zu knacken. Somit bleiben Nährstoffe eingeschlossen.
b) Pflanzliche Lebensmittel können Stoffe enthalten, welche die Aufnahme von Nährstoffen hemmen. So hemmt Oxalsäure zum Beispiel die Aufnahme von Kalzium.

Man kann also erst einmal festhalten: Die Aussage ist naturwissenschaftlich korrekt. Je nachdem, um welches pflanzliche Lebensmittel es geht und wie es verarbeitet wurde, können die Nährstoffe in einem schwankenden Umfang schlechter verfügbar sein als die Nährstoffe in Fleisch. Das gilt für die Mikro- und Makronährstoffe.

2.) Ist der Einwand ethisch relevant?

Unser Körper hat einen ständigen Bedarf an zahlreichen Nährstoffen. Werden sie nicht in ausreichenden Mengen aufgenommen, führt dies zu gesundheitlichen Problemen. Wir müssen uns also nicht länger mit dieser Frage beschäftigen, denn wenn wir Nährstoffe brauchen und die Nährstoffe in Pflanzen schlechter verfügbar sind, dann ist das Thema Bioverfügbarkeit erst einmal grundsätzlich ethisch relevant, weil unser Wohlergehen ethisch relevant ist.

3.) Ist der Einwand ethisch AUSREICHEND relevant?

Wenn unser Wohlergehen ethisch nicht ausgeklammert werden darf, da auch wir Menschen ethisch zählen, stellt sich eine neue naturwissenschaftliche Frage: Können wir unseren Nährstoffbedarf trotzdem decken? Ihr alle kennt die Antwort: Ja, können wir.

Wir benötigen zwar ein wenig Hintergrundwissen und ein bisschen Disziplin, aber wir können alles, was wir brauchen, bekommen, ohne Tiere auszubeuten. An dieser Stelle ist natürlich ein weiterer Einwand zu erwarten: „Ja, wenn ihr Pillen nehmt oder angereicherte Lebensmittel kauft.“ Das ist korrekt. B12 steht nicht zur Diskussion. Und bei ein paar anderen Nährstoffen sollte man sehr genau hinschauen.

Wir haben also ein doofes „Ja, aber …“ als Ergebnis. Daher stellt sich die nächste Frage, was dieses „Aber“ zu bedeuten hat. Wir haben 2 Haken:
a) Es ist etwas mehr Disziplin (inkl. Wissen) nötig.
b) Es muss wenigstens ein Nährstoff zwingend ergänzt werden.

Der Einwand, dass wir Nahrungsergänzungsmittel nehmen oder extra angereicherte Lebensmittel kaufen müssen, ist in der Regel ein Appeal-to-nature-Fehlschluss. Ihr findet die Erklärung dazu in meinen Artikel „Der Mensch ist (k)ein Fleischesser“. Ich kann diese Deutung hier also ignorieren, weil sie bereits adressiert wurde. Es bleibt also nur ein Haken übrig, der für a) und b) gelten kann: Es ist etwas mehr Aufwand.

Ich habe in dem Artikel „Wir schenken Leben“ erklärt, wie man Interessen auf eine nachvollziehbare Weise unterschiedliches Gewicht zusprechen kann. Wer sich daran nicht mehr erinnert, bitte nochmal dort nachschlagen, damit ich nicht nochmal alles wiederholen muss. Dort habe ich für folgende Gewichtung von Interessen argumentiert:

a) Das schwerwiegendste Interesse ist das Interesse am Leben. Es muss unseren ‚Nutztieren‘ aus Gerechtigkeitsgründen ebenfalls zugesprochen werden.
b) Es kann zwischen Begehren und Bedürfnissen unterschieden werden. Begehren sind Interessen, deren Befriedigung nett, schön, angenehm, aber nicht lebensnotwendig ist. Bedürfnisse sind Interessen, deren Befriedigung hingegen lebensnotwendig ist. Eine ständige Verletzung von Bedürfnissen führt früher oder später zum Tod.

Auf der Basis dieser Gewichtungen können wir nun unseren letzten Gedankenschritt vollziehen:
Gesetzt, dass eine ‚vegane Ernährung‘ etwas anspruchsvoller als eine Mischkost ist: Welches Interesse wird hier verletzt? Der Wunsch nach Bequemlichkeit, nach Einfachheit. Weder Bequemlichkeit noch Einfachheit sind ein Bedürfnis. Wer auf Bequemlichkeit oder Einfachheit verzichtet, gefährdet auch nicht sein Leben.

Auf der Seite des Menschen steht also nur ein Begehren auf dem Spiel, während die Erzeugung von tierischen Lebensmitteln nicht nur zwangsläufig Bedürfnisse, sondern im Normalfall auch das Lebensinteresse verletzt. Da die Verletzung von schwerwiegenden Interessen für ein triviales Interesse unstatthaft ist, ist dieses antivegane Argument daher als verfehlt zurückzuweisen.

Ich bitte euch daher darum, auch hier der Versuchung zu widerstehen, das naturwissenschaftliche Argument bestreiten zu wollen. Man kann über die Relevanz und über das Ausmaß des Unterschiedes diskutieren, aber nicht über den grundsätzlichen Sachverhalt. Wir erscheinen wie Realitätsverweigerer, wenn wir so etwas tun. Der Veganismus muss NICHT auf jeder Ebene die beste Option sein, um die richtige Handlungsoption zu sein.

Das ist das, was wir als Szene lernen müssen. Unser Fall ist stark genug, selbst wenn wir hie und da Zugeständnisse an Kritiker machen müssen. Wenn wir wie Besessene daran festhalten, dass der Veganismus in jeder Hinsicht die beste Option sein muss, dann geben wir damit vor allem eine Sache zu verstehen: Wir sind selbst nicht ausreichend von unserem ethischen Anliegen überzeugt.

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