Der Begriff Interesse und die Tierethik Leonard Nelsons.

Tierethik & Veganismus · October 21, 2022

Der folgende Artikel ist eine stark überarbeitete Fassung eines Vortrages, der auf der Diskussionsplattform des Vereins selbst-kritisch-vegan gehalten wurde (alle detaillierten Quellenangaben befinden sich am Ende). Die Plattform kann über diesen Link erreicht werden: https://discord.gg/4ypYN4ekNr. Wer zukünftige Arbeiten wie diesen Artikel fördern will, findet hier zudem eine Unterstützungsmöglichkeit.

PDF-Version hier.

Einleitung

Im Zentrum dieses Artikels stehen die Ausführungen des frühen Tierrechtlers Leonard Nelson und ein Begriff, der in den letzten Jahren eine steile Karriere erlebt hat und zu einem festen Bestandteil, zu einem Schlüsselbegriff der Tierethik geworden ist: Es soll um den Begriff Interesse bzw. Präferenz gehen.

Um einen Einstieg in das Thema zu finden, schauen wir uns einführend ausgewählte Auszüge aus dem Handbuch Tierethik [1] an. Es handelt sich hierbei um das aktuelle deutschsprachige Standardwerk zum Themenkomplex, weswegen es auch erwartungsgemäß ein eigenes Kapitel zum Begriff Interesse enthält. Dort lesen wir einleitend:

Interessen-nach-Handbuch-Tierethik

Der Begriff Utilitarismus dürfte weitestgehend bekannt sein, aber vielleicht ist es sinnvoll, kurz zu erklären, was unter Kontraktualismus bzw., bedeutungsgleich, unter Vertragstheorie zu verstehen ist. Wer beim Nachdenken über Fragen der politischen Philosophie nicht von der Überzeugung ausgeht, dass es objektive Normen bzw. Regeln gibt, steht vor der Herausforderung, zuerst einmal das Fundament für ein Zusammenleben, für ein Miteinander zu legen. Vor dem Hintergrund, dass unser Miteinander nicht ohne Werte und Regeln funktionieren kann und dass nicht von der Existenz von objektiven Normen ausgegangen wird, liegt die Lösung nahe, dass sich zusammenlebende Menschen schlicht gemeinschaftlich auf Werte und Regeln einigen sollten, also vertragsartig Regeln des Miteinanders festlegen. Analog gilt dann dasselbe, wenn nicht auf weltliche oder religiöse Autoritäten gesetzt werden soll.

Das ist stark vereinfacht das, was man sich grob unter einem vertragstheoretischen Ethikansatz vorstellen kann. Es geht also, um es etwas polemisch auszudrücken, nicht darum, dass ein Schreibtischtäter mehr oder weniger abstrakt ein möglichst ideales Ethikmodell entwickelt, für das dann geworben werden und dem man sich eventuell annähern kann, sondern im Zentrum steht der simple Ansatz, dass sich Menschen gemeinschaftlich auf Werte bzw. Regeln des Zusammenseins einigen. Ein Haken solcher Modelle ist natürlich, dass mit uneinsichtigen oder schlicht unvernünftigen oder vernunftunfähigen Menschen keine sinnvolle Übereinkunft möglich ist. Auch ist nicht klar, welche Relevanz ein solches Modell in einer vollständig besetzten Welt hat, in der man nirgends auf neutralem Boden derartig bei Null anfangen könnte. Fahren wir mit dem Handbuch fort:

Interessen-nach-Handbuch-Tierethik

Also: Ob und inwiefern man die Interessen von Tieren berücksichtigen muss, hängt laut dieser Passage von drei Punkten ab:

  1. Was genau verstehen wir unter ethisch relevanten Interessen? Anders gefragt: Haben Tiere ethisch berücksichtigungswürdige Interessen?
  2. Welchen Wert sprechen wir Interessen innerhalb eines Ethikansatzes oder -modells zu?
  3. Selbst wenn Tiere letztlich ethisch relevante Interessen haben: Sind wir dazu verpflichtet, sie zu berücksichtigen? Oder endet unsere Verpflichtung vielleicht an der Speziesgrenze, zum Beispiel weil wir mit Tieren keinen Vertrag abschließen können?

Weiter im Text:

Interessen-nach-Handbuch-Tierethik

Auch hier wieder kurze Erläuterungen, damit alle folgen können: Mit Regan ist Tom Regan gemeint. Er veröffentlichte 1983 das Tierrechtsbuch The case for animal rights und damit einen der einflussreichsten Beiträge zur Tierethik des 20. Jahrhunderts. Das Buch ist zum Teil als Antwort auf und als ablehnender Gegenentwurf zu Peter Singers tierethischer Position zu verstehen. In diesem Werk hat Regan die hier angesprochene Unterscheidung zwischen „Interesse an“ und „im Interesse von“ vorgenommen. Vielleicht kann man sie so am besten veranschaulichen:

Stellt euch vor, dass ihr euer Kind abends früher als sonst ins Bett bringen müsst, weil der Wecker schon um 4 klingelt. Euer Kind möchte aber noch spielen, hat also ein Interesse daran, noch wach zu bleiben. Weil der nächste Tag aber lang wird, ist es im Interesse eures Kinds, dass es früher als sonst schläft, auch wenn es kein Interesse am frühen Schlafengehen hat.

In der Tierethik ist dieser Unterschied besonders bei der Tötungsfrage relevant. Wer bezweifelt, dass Tiere eine Vorstellung von Leben und Tod haben, wer bezweifelt, dass Tiere so etwas wie ein Lebensinteresse haben, wird bestreiten, dass Tiere ein Interesse an ihrer Fortexistenz haben, aber sie können dennoch durchaus davon ausgehen, dass die Fortexistenz im Interesse von Tieren ist, wenn sie ein gutes Leben führen.

Die folgenden Betrachtungen werden sich auf das „Interesse an“ fokussieren. Lesen wir weiter im Handbuch Tierethik. In der folgenden Passage wird verdeutlicht, wie unterschiedlich die Positionen sind, wenn es um die Frage geht, ab wann Interessenträgerschaft zugesprochen wird:

Interessen-nach-Handbuch-Tierethik

Peter Singer dürfte es auch gewesen sein, der den größten Einfluss auf die Karriere des Interessen- bzw. Präferenzbegriffs hatte. Er wird als der bedeutsamste Vertreter des Präferenzutilitarismus betrachtet. Als wie bedeutsam Singer in dieser Hinsicht wahrgenommen wird, kann man auch einer etwas ungerechten Stelle im Handbuch Tierethik entnehmen. Wir lesen dort:

Interessen-nach-Handbuch-Tierethik

Wir werden später darauf zurückkommen, dass Singer keineswegs der Urheber dieses Prinzips ist, aber da er nun einmal so einflussreich war, sollten wir uns Singers Interessenbegriff kurz einmal anschauen. [2]

Interessen-nach-Handbuch-Tierethik

Interessen-nach-Handbuch-Tierethik

Wir sehen, dass Peter Singer die Empfindungsfähigkeit zur Voraussetzung dafür macht, Lebewesen Interessen zuzusprechen. Das Interesse, das für Singer zentral ist, ist das Interesse daran, keine Leiden, keine Schmerzen zu empfinden; die positiven Empfindungen, Freude, Glück, Lust usw., werden von Singer im tierethischen Kontext kaum beachtet. Vor diesem Hintergrund ist jedoch nicht ersichtlich, warum Peter Singer derartig einflussreich war, denn dieser Ansatz war, wie der Ausschnitt klargestellt hat, ja keineswegs neu. Jeremy Bentham hatte bereits 1780 eine vergleichbare Position vertreten. Es muss also noch etwas in seinem Werk geben, was seinen Präferenz- bzw. Interessenbegriff von der bisherigen philosophischen Tradition unterschied. Schauen wir uns also einen zweiten kurzen Ausschnitt aus Singers Hauptwerk an:

Interessen-nach-Handbuch-Tierethik

Interessen-nach-Handbuch-Tierethik

Die Besonderheit der Position Singers besteht darin, dass der Präferenzutilitarismus anders als der klassische Utilitarismus Benthams sehr direkt zur Tötungsfrage Stellung beziehen kann. Wenn es um die Berücksichtigung von Präferenzen und nicht nur um Leid und Glück geht, lässt sich die schmerz- und leidfreie Tötung problematisieren, indem darauf verwiesen wird, dass Lebewesen die Präferenz, also ein Interesse daran haben können, weiterzuleben. Und dieses Interesse wird auch dann verletzt, wenn die Tötung schmerz- und leidlos erfolgt.

Singer bindet das Vorliegen eines Lebensinteresses jedoch an ein bewusstes Weiterleben-Wollen. Nur Wesen, die Singer Personen nennt, verfügten über die notwendigen Eigenschaften, um ein solches Interesse zugesprochen zu bekommen. Sie seien sich ihrer selbst bewusst, hätten also ein Selbstbewusstsein, sie würden nicht nur von Moment zu Moment leben, sondern hätten eine Biographie und Wünsche für die Zukunft. Da Fischen diese Eigenschaften fehlten, könnte man sie, so Singer, prinzipiell beliebig töten und durch neue Fische ersetzen.

Singer hat Schimpansen, Gorillas und Orang-Utans einen sicheren Personenstatus zugesprochen, während folgende Tiere möglicherweise Personen in seinem Sinne seien, weswegen sie aus Vorsicht den Schutz des Personenstatus genießen sollten: Wale, Delfine, andere Affenarten, Hunde, Katzen, Schweine, Robben, Bären, Rinder, Schafe, vielleicht alle Säugetiere, Hühner und andere Vögel. Es darf davon ausgegangen werden, dass auch Elefanten zu den plausibleren Kandidaten zählen.

Es sollte jedoch nicht vergessen werden, dass Singer diese Vorsichtsregel keineswegs wirklich ernst genommen hat. In späteren Interviews ließ er erkennen, dass weder Rinder noch Hühner als Personen in seinem Sinne zu betrachten sind. Daraus folgt letztlich, dass nach Singer beinahe alle Tiere auf diesem Planeten beliebig getötet und ersetzt werden dürften, solange die Tötung leid- und schmerzfrei erfolgt. Bitte behaltet diese Position für die weitere Betrachtung im Hinterkopf.

Halten wir noch einmal fest: Wir haben gesehen, dass die Empfindungsfähigkeit für Singer das entscheidende Kriterium dafür ist, von Interessen und von ethischer Schutzwürdigkeit sprechen zu können. Eine Haltung, die ihr kennen solltet, denn auch in der veganen Szene ist es üblich, die Empfindungsfähigkeit zum Dreh- und Angelpunkt der Ethik zu machen.

Da es heute schwerpunktmäßig um die Tierethik Leonard Nelsons gehen soll, erscheint es sinnvoll, noch kurz bei dieser Position zu verweilen und kurz und knapp die schwerwiegenden Probleme zu adressieren, die mit der Empfindungsfähigkeit als Startpunkt ethischer Berücksichtigungswürdigkeit verbunden sind.

1.) Wer Empfindungsfähigkeit zum Dreh- und Angelpunkt der Ethik erhebt, rückt letztlich die Gefühlswelt von Lebewesen, also ‚innere Zustände‘ wie Leid, Glück, Angst und Co. ins Zentrum. Der Zugriff auf innere Zustände ist jedoch mit massiven Unsicherheiten verbunden.

Hervorzuheben ist zu diesem Problemfeld der 1974 erschienene berühmte Essay von Thomas Nagel: „Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?“. [3] In diesem kurzen Text thematisiert Nagel die Unmöglichkeit, jemals wirklich verstehen bzw. eher nachempfinden zu können, wie sich andere Wesen, seien es Menschen oder Tiere, fühlen. Als Beispiel dient ihm eine Fledermaus – sicher nicht zuletzt deswegen, da sie sich mit ihrer Echoortung so fundamental von uns unterscheidet. Er schrieb:

Auszug-Nagel: Wie ist es eine Fledermaus zu sein?

Auszug-Nagel: Wie ist es eine Fledermaus zu sein?

Das heißt: Selbst wenn wir über die Erfassung von Gehirnprozessen alles sichtbar machen können, was im Kopf eines anderen Wesens physisch passiert, haben wir noch immer keine Ahnung, wie es sich für dieses Wesen genau anfühlt, diesen Prozessen zu unterliegen.

Wollen wir in der Ethik wirklich etwas Unsicheres, etwas Wackeliges an den Anfang stellen? Oder sollten wir nicht vielleicht mit etwas Sichererem anfangen und unsicherere Aspekte nachrangig heranziehen? Wir werden später sehen, dass Leonard Nelson dieses Problem wohl bedacht hat.

2.) Die Empfindungsfähigkeit ist eng an die Anatomie-Debatte geknüpft. Die Frage lautet: Welche anatomischen Eigenschaften muss ein Wesen haben, um empfindungsfähig zu sein?

Der Haken ist nicht schwer zu erkennen: Wir wissen zum Beispiel sehr genau, wie Insekten anatomisch aufgebaut sind – und doch haben wir keine Ahnung, ob sie empfinden können oder nicht. Wir gewinnen hier offensichtlich auch keinen robusten Startpunkt für eine Ethik

Leonard Nelson

Nach dieser etwas länglichen Einleitung, die uns als Kontrast für die folgenden Betrachtungen dient, können wir uns nun dem zentralen Thema des Artikels widmen: Leonard Nelson bzw. Leonard Nelsons Interessenansatz. Wir kommen also auf die bisher aufgeführten Punkte noch einmal zurück.

Leonard Nelson war ein deutscher Philosoph, der von 1882 bis 1927 lebte und trotz seines frühen Todes (er starb an einer Lungenentzündung) ein derartig umfassendes Lebenswerk hinterlassen hat, dass kaum zu begreifen ist, wie diese Arbeit in so wenigen Jahren möglich gewesen ist. Thomas Meyer schrieb daher im „Metzler Philosophen-Lexikon“ zu Recht:

„Sowohl die Entwicklung seiner Philosophie von ihren ersten Anfängen bis zum reifen Werk wie die Wege und Schritte ihrer Umsetzung sind von einer einzigartigen Folgerichtigkeit und Geradlinigkeit, die ihresgleichen sucht.“

Nelsons Ziel war es nicht nur, eine Ethik „nach den strengen Maßstäben mathematisch- naturwissenschaftlicher Beweisführung“ zu begründen, sondern er strebte auch eine direkte praktische Umsetzung an, weswegen er politisch äußerst aktiv war. [4]

Das Fundament der Ethik Nelsons ist eine radikale Gerechtigkeitsperspektive, die der Spezieszugehörigkeit keinerlei Relevanz zumisst, sondern „Interessen“ in den Mittelpunkt der Betrachtung stellt – unabhängig davon, welcher Art der Interessenträger angehört. Aus seiner Ethik ergibt sich nicht nur ein strikter Vegetarismus, den er mit selbstbewusster Härte einforderte, sondern auch ein Veganismus, wie er von der Vegan Society definiert wurde. Seine tierethischen Überlegungen werden daher seit einigen Jahren vermehrt „wiederentdeckt“, und er wird mittlerweile auch zu den Klassikern der Tierethik gezählt, auch wenn eine ausreichende Würdigung bisher noch ausgeblieben ist.

Zu beklagen ist jedoch, dass es schwer fällt, eine angemessene Deutung seiner Tierethik zu finden. Man kann vermuten, dass die herrschenden Haltungen, wie sie zum Beispiel teilweise bei Peter Singer oder in der veganen Szene vorzufinden sind, die Nelson-Interpretationen erschwert haben, da bereits mit einer gewissen Brille an sein Werk herangetreten wird, aber es darf auch nicht unterschätzt werden, dass Nelson kein separates Werk zur Tierethik vorgelegt hat. Jede Auslegung ist daher auf die wenigen Stellen beschränkt, die Nelson zu diesem Thema hinterlassen hat.

Um an dieser Stelle keine Belege schuldig zu bleiben, soll die folgende Analyse mit zwei Falschdarstellungen beginnen, um einen Einstieg zu Nelson zu finden.

Das erste Beispiel ist ein Artikel über Nelson von Urs Müller, der auf der Seite tier-im-fokus.ch erschienen ist. [5] Dort lesen wir:

„Eine Einschränkung meines Handelns durch die Pflicht tritt erst dort auf, wo ich mit meinem Tun oder Lassen nicht nur auf meine eigenen, sondern auch auf die Interessen anderer Einfluss nehme. Dabei verfügen gemäss Nelson all jene Lebewesen über Interessen, die Lust und Schmerz erleben können, also empfindungsfähige Wesen sind. Solche Interessenträger nennt Nelson Personen. Sie haben eine persönliche Würde, was bedeutet, dass sie durch die Pflicht unserem Belieben und unserer Willkür entzogen sind. Dadurch haben alle Personen den Anspruch auf Achtung ihrer Interessen, sie haben also Rechte.“

Wir sehen, dass Nelson laut Urs Müller Interessen an die Empfindungsfähigkeit, an Lust und Schmerz gebunden hätte. Die genaue Lektüre wird gleich zeigen, dass dies nicht in dieser Form der Fall ist. Das zweite Beispiel ist ein Vortrag von Dieter Birnbacher (Schlüsselstelle 21:12 bis 22:59), also von einem der bekanntesten Ethiker Deutschlands.

Birnbacher behauptet also, dass man bei Nelson selbst einen solchen Gedankengang finden könnte:

  1. Alle Wesen mit Interessen haben einen Anspruch auf Berücksichtigung ihrer Interessen.
  2. Von den außermenschlichen Naturwesen haben nur Tiere Interessen.
  3. Alle Tiere haben Interessen.
  4. Alle Tiere haben – als Subjekte von Interessen – das Recht, nicht getötet zu werden.

[Abschrift der gezeigten Folie.]

Wenn ihr genau hinguckt, seht ihr, dass Punkt 4 keinen Sinn ergibt. Es ist überhaupt nicht klar, warum aus dem Haben von Interessen das Recht folgen sollte, nicht getötet zu werden, denn logisch folgt das nicht. Ein Recht auf Nicht-Tötung könnte aus einem Lebensinteresse, aus dem Interesse am Weiterleben folgen, aber nicht schon aus dem bloßen Haben von Interessen im Allgemeinen. Dementsprechend hat Leonard Nelson so etwas selbstverständlich nicht geschrieben – und sein Gedankengang weist die hier offenkundig vorhandene Lücke auch nicht auf.

Sowohl die Falschdarstellung von Urs Müller als auch von Dieter Birnbacher dürfte auf dieselbe Quelle bzw. auf dieselbe Fehlinterpretation Nelsons zurückzuführen sein. Das zentrale Problem ist sein ungewöhnlicher Interessen-Begriff, und genau damit wollen wir uns nun beschäftigen. Denn vielleicht lässt sich Nelson etwas entnehmen, was für unser Anliegen im Hier und Jetzt von Wert ist.

Und wenn wir schon den gesamten Haupttext besprechen, den Nelson zum Thema Tierethik hinterlassen hat, dann ist es vielleicht auch sinnvoll, noch kurz die zwei weiteren relevanten Stellen voran- und vorzustellen, denn sie gehören zum Gesamtbild.

Der erste Auszug [6] stammt aus einer Rede Nelsons vor der Kasseler Arbeiterschaft, die 1926 im Mitteilungsblatt des Internationalen Sozialistischen Kampf-Bundes erschien. Er verdeutlicht, dass es ihm um die politische Einbindung seiner tierethischen Position ging, nicht nur um bloße Theorie:

Nelson: Recht-und-Staat

Nelson: Recht-und-Staat

Der zweite Auszug ist in Nelsons Werk zur philosophischen Rechtslehre und Politik [7] zu finden und beschäftigt sich mit der Gesetzgebung für das Vormundschaftsrecht. Er zeigt unter anderem, mit welcher Konsequenz Nelson Gerechtigkeits- bzw. Konsistenzüberlegungen in seine Werke einfließen ließ:

Nelson: Band 6, System der philosophischen Rechtslehre und Politik

Nelson: Band 6, System der philosophischen Rechtslehre und Politik

Nelson: Band 6, System der philosophischen Rechtslehre und Politik

In diesem Text tauchten zwei für Nelson bedeutsame Begriffe auf, die auch bei Peter Singer eine entscheidende Rolle spielen: Person und Interesse. Schauen wir uns zunächst an, was Nelson unter diesen Begriffen verstanden wissen wollte.

Der Anfang soll mit der Stelle [8] gemacht werden, die für die Fehldeutung Nelsons primär verantwortlich zu machen ist. Danach schauen wir uns an, warum es eine Fehldeutung ist.

Nelson: Band 6, System der philosophischen Rechtslehre und Politik

Nelson: Band 6, System der philosophischen Rechtslehre und Politik

Auf den ersten Blick sieht es in der Tat so aus, als würde Nelson die Empfindungsfähigkeit, die Empfänglichkeit für Lust und Unlust ins Zentrum seiner Betrachtungen rund um die Begriffe Person und Interesse rücken, aber eine genaue Betrachtung offenbart, dass es nicht ganz so einfach sein kann: Er schreibt:

„denn darunter [, also unter Lust und Unlust,] verstehen wir diejenigen Interessen“

usw. usf. Diejenigen! Es gibt also noch mehr, was unter den Begriff Interesse fällt. Es gibt Anlass, genauer hinzuschauen.

Fahren wir mit den nächsten Auszügen fort.[8, 9] Ihr werdet sehen, dass bereits die erste Stelle die oben vorgestellte Fehldeutung hätte verhindern müssen:

Nelson: Ethik

Nelson: Ethik

Nelson: Ethik

Nelson: Ethik

Und nun folgt noch eine Stelle [8, S. 122], die aufzeigt, wie eine gründlichere Lektüre die kritisierte Fehlinterpretation hätte verhindern müssen:

Nelson: Ethik

Fassen wir zusammen, was Nelson schrieb: Im Zentrum seines Interessen-Begriffs steht das Vermögen, Dingen einen Wert oder Unwert zu erteilen, und dieses Erteilen zeige sich durch Polarität des Verhaltens. Er möchte im weitesten irgend möglichen Sinne von Interessen sprechen, und er stellt unmissverständlich klar, dass es gerade nicht nur um Lust und Unlust, um Empfindungsfähigkeit geht. Es geht um die allgemeine Fähigkeit, zu werten, also Dinge oder Situationen zu wollen oder nicht zu wollen. Eine Fähigkeit, die sich über die Polarität des Verhaltens äußert.

Es mag nun der Eindruck entstehen, dass die Hervorhebung des Aspekts Verhalten unberechtigt ist, da sich mit Nelson auch genauso das Werten derartig betonen ließe, aber wir werden später noch sehen, dass gerade das beobachtbare Verhalten für Nelson von besonderer Bedeutung gewesen zu sein scheint. Für Tiere bedeutet das, dass schon bloßes Aufsuch-, Meide- oder Abwehrverhalten, wie es bereits bei Insekten oder Schnecken zu beobachten ist, als ausreichender Hinweis auf Interessenträgerschaft zu interpretieren wäre.

Doch bevor wir diese Schwerpunktsetzung anhand des Haupttextes untermauern, fehlt uns noch eine Klärung des Personenbegriffs Nelsons, auch wenn er schon kurz durchschimmerte [8].

Nelson: Ethik

Nelson: Ethik

Wir können uns hier also kurzfassen: Jedes Wesen, das Interessen hat, ist eine Person. Der Kontrast zu Singer könnte nicht größer sein, und so irritierend es auch klingen mag: Wenn die Polarität des beobachtbaren Verhaltens entscheidend ist, dann sind nach Nelson also bereits Insekten Personen.

Interessant ist nun jedoch, dass wir bei Nelson, anders als in vielen anderen Ethiken und auch im Unterschied zu Peter Singer, zwei Arten von Personen begegnen [9].

Nelson: Ethik

Was Nelson hier in vielleicht nicht ganz klaren Worten zum Ausdruck bringen will, ist eine simple Differenzierung:

Alle Interessenträger haben Rechte, aber nicht alle Interessenträger haben Pflichten. Lebewesen, die nicht moralfähig sind, die sich nicht an Abmachungen oder Gesetze halten können, aber Interessen haben, sind nach Nelson Rechtssubjekte, also Träger von Rechten. Zu ihnen gehören insbesondere Tiere und Kinder bis zu einem gewissen Alter. Lebewesen, die moralfähig sind, sich an Abmachungen oder Gesetze halten können, sind hingegen nicht nur Rechtssubjekte, sondern zusätzlich auch Pflichtsubjekte. Sie sind also nicht nur Träger von Rechten, sondern sie sind auch dazu verpflichtet, die Interessen bzw. Rechte anderer Wesen zu berücksichtigen. Erwachsene Menschen ohne gravierende geistige Behinderung sind demnach Pflichtsubjekte.

Damit sind nun die Grundlagen bereitgestellt und wir können den Text lesen, um den es heute hauptsächlich gehen soll. [8]

Nelson: Ethik

Der letzte Satz verdeutlicht, worum es Nelson auch in der Tierethik ging: um Gerechtigkeit. Nelson fordert, dass jede Person, sei sie menschlich oder tierlich, Anspruch auf gerechte Achtung ihrer Interessen hat. Der simpelste Grundsatz der Gerechtigkeit ließe sich so formulieren: Gleiches ist gleich zu behandeln, Ungleiches ungleich. Dort, wo Tiere dieselben Interessen wie Menschen haben, sind sie also gleich zu behandeln. Es geht um eine radikale, speziesübergreifende Gerechtigkeit.

Nelson: Ethik

Nelson: Ethik

Diese Stelle enthält gleich mehrere Formulierungen, die vielleicht erklärungsbedürftig sind.

A priori heißt so viel wie „vor aller Erfahrung“ oder „durch logisches Schließen“ gewonnen. Insbesondere Kant hatte in seiner Ethik auf folgenreiche Weise das Haben von Rechten an die Moralfähigkeit gebunden. Das heißt: Nur Wesen, die moralfähig sind, also Pflichten übernehmen können, können auch Rechte haben bzw. Gegenstand ethischer Berücksichtigung sein. Streng genommen würde das auch bedeuten, dass Säuglinge oder Kleinkinder bis zu einem gewissen Alter eigentlich keine direkte ethische Berücksichtigung verdienen.

Nelson weist nun darauf hin, dass es keinen logischen Grund gibt, das Haben von Rechten an die Moralfähigkeit zu binden. Unabhängig davon, dass er logisch recht hat, macht er so den Weg für die ethische Berücksichtigung von Tieren frei.

Entscheidender ist nun aber eine definitorische Weichenstellung, die Nelson hier vornimmt und mit durchaus irritierender Stringenz anwendet.

Nelson definiert Wesen, die Interessen haben, aber nicht zu einer vernünftigen Selbstbestimmung fähig, also auch nicht moralfähig sind, Tiere. Wesen, die zusätzlich zur Interessenträgerschaft die Anlage zur Moralfähigkeit haben, seien Menschen.

Daraus folgt, so irritierend es auch sein mag: Sollte sich zeigen, dass manche Wesen, die wir klassischerweise Tiere nennen, keine Interessen haben, so wären sie gemäß dieser Definition keine Tiere, sondern irgendetwas Anderes. Wir werden gleich noch sehen, wie Nelson von dieser Definition konsequent Gebrauch macht.

Der letzte Satz adressiert das auch in Nelsons Zeit noch weit verbreitete Verrohungsargument. Tiere wurden seit Kant nicht für sich selbst geschützt, sondern weil Tierquälerei den Menschen verrohe, sodass Gefahr besteht, dass verrohte Menschen auch anderen Menschen schaden. Nelson fordert hingegen, dass Tiere für sich selbst ethische Berücksichtigung verdienen. Er erklärt es auch direkt noch einmal selbst:

Nelson: Ethik

Nelson: Ethik

Hier sehen wir, mit welcher Strenge Nelson sich an seine Definition hält.

Er deutet zunächst an, dass sich derjenige, der bestreiten will, dass Tiere Interessen haben, zugleich das Problem einhandelt, auch bei Menschen die Interessenträgerschaft in Frage stellen zu müssen. Nelsons Text wird das gleich noch weiter ausführen.

Interessanter ist an dieser Stelle jedoch, dass Nelson klarstellt, dass derjenige, der Tieren gegenüber derartig missgünstig und skeptisch ist, konsequenterweise Menschen gegenüber genauso skeptisch sein müsste. Da der Nachweis der Vernunft bzw. Moralfähigkeit noch erheblich schwerer als der Nachweis von Interessen ist, stellt sich dann die Frage, ob nicht viele Menschen gemäß seiner Definition lediglich unter den Begriff Tier fallen müssten. Eine Konsequenz, die ein Gegenüber dann unredlicherweise wohl kaum akzeptieren wird, sodass der Doppelstandard entlarvt wäre.

Fahren wir fort:

Nelson: Ethik

Nelson: Ethik

Wir sehen, mit welch eiserner Strenge Nelson seine Überlegung zu Ende führt, aber für uns relevanter ist hier ein kleines Detail, das die bisherige Interpretation untermauert:

Nelson spricht davon, dass wir von körperlichen Äusserungen auf innere Vorgänge schließen. Wir finden hier den nächsten Hinweis darauf, dass es angemessen ist, Nelsons Interessenbegriff im Kontrast zur bisherigen Nelson-Interpretationen in Fachbüchern und Co. an das beobachtbare Verhalten zu binden.

Weiter im Text:

Nelson: Ethik

Worauf Nelson hier aufmerksam machen möchte, kann vielleicht der Verweis auf Roboter veranschaulichen. Auch ein Roboter kann sprechen, aber wir schließen daraus keineswegs, dass er etwas nicht will oder dass er leidet, wenn er sagt, dass er etwas nicht will oder leidet. Dass wir der menschlichen Sprache diesen Informationswert zusprechen, ist gerade auf den Analogieschluss zurückzuführen, der dann bei Tieren jedoch abgelehnt wird.

Lesen wir Nelsons zweiten Einwand:

Nelson: Ethik

Nelson: Ethik

Nelson weist also darauf hin, dass die Sprache nicht nur ein Mittel der aufrichtigen Mitteilung, sondern auch eines der Lüge, der Verstellung, der Fehlinformation sein kann, sodass die Sprache hier keineswegs eine zuverlässige Orientierung bietet.

Was Nelson mit dem Satz „Wollte man im Ernst“ meint, kann auf den ersten Blick etwas unklar erscheinen. Eine kleine Umformulierung kann helfen, zu verstehen, was er meinte:

Wollte man im Ernst das Verbot der Tierquälerei mit dem Argument angreifen, daß wir über die Interessen von Tieren nichts wüssten, so müsste man die Unmöglichkeit der Tierquälerei, aber auch die der Quälerei von Menschen behaupten.

Nelson möchte also darauf hinaus: Wer sich bei den Tieren querstellt, sie ethisch zu berücksichtigen, muss es auf der Basis des Arguments dahinter auch bei Menschen. Denn Konsequenz ist das erste, was man von einem denkenden Menschen verlangen könne.

Weiter im Text:

Nelson: Ethik

Nelson: Ethik

Nelson macht uns hier auf seine Weise auf ein Phänomen aufmerksam, dass man auch heute noch überall beobachten kann:

Menschen versuchen, über Graubereiche, über Grenzfälle, auch die Fälle zu kassieren, die eigentlich klar sind. Ein klassisches Beispiel wären hier Abtreibungsgegner, die wie folgt argumentieren: Da wir nicht mit Sicherheit wissen, ab wann ein Ungeborenes leiden oder Schmerzen empfinden kann, ist es insgesamt unstatthaft, abzutreiben. Der Denkfehler ist offensichtlich: Es gibt einen sehr klaren Bereich, an dem ein Embryo unzweifelhaft noch nichts empfinden kann – und es gibt einen klaren Bereich, in dem das bei einem Fötus der Fall ist. Dazwischen befindet sich ein Zeitraum, bei dem wir uns unsicher sind. Die mögliche Grenze wäre also der Zeitpunkt, bis zu dem sicher kein Empfinden möglich ist, aber solche Abtreibungsgegner nutzen den Graubereich, um auch den klaren Bereich für irrelevant zu erklären.

Genau diesen Denkfehler beklagt Nelson hier im Kontext der Tierethik. Nur weil wir nicht mit Gewissheit sagen können, ob ein bestimmtes Tier Interessen hat, folgt daraus nicht, dass wir es bei gar keinen Tieren sicher genug annehmen können.

Lesen wir weiter:

Nelson: Ethik

Es folgt nun die zweite Schlüsselstelle, auf die sich die bisherige Interpretation des Interessenbegriffs Nelsons stützen kann. Sie dürfte noch einmal verdeutlichen, warum die bisherigen Darstellungen der Tierethik Nelsons unpräzise und irreführend waren:

Nelson: Ethik

Nelson: Ethik

Dass Nelson hier an die beobachtbare Reaktion der Mimose dachte, offenbart, wie sehr es ihm schon um beobachtbares Verhalten und nicht einfach, wie ihm unterstellt wurde, um Empfindungsfähigkeit ging.

Nun wird an dieser Stelle jedoch eingewandt werden, dass es doch gar nicht so einfach sei, automatenhafte Reiz-Reaktionen von Verhaltensweisen, die Interessenträgerschaft offenbaren, zu trennen. Zeigt die Tabakpflanze nicht, dass sie nicht gegessen werden will, wenn sie Gift bildet, sobald sie beknabbert wird, selbst wenn diese Reaktion genau genommen nicht direkt zu beobachten ist?

Nelson starb zu früh, um vielleicht noch ein separates Werk zur Tierethik verfassen zu können. Es bleibt also der Nachwelt, wenn sie seinem Ansatz folgen will, überlassen, hier etwas nachzuschärfen, um genau solche Probleme zu vermeiden.

Zwei Möglichkeiten seien daher kurz skizziert:

  1. Es erscheint plausibel, dort nicht mehr von simplen automatenhaften Reiz-Reaktionen auszugehen, wo uns die beobachtbaren Reaktionen überraschen können, also nicht schlicht gleichförmig sind. Schon eine Fliege wird auf denselben Reiz unter kontrollierten Bedingungen nicht immer gleich reagieren.
  2. Eine weitere denkbare Konkretisierung könnte das Vorliegen von problemlösendem Verhalten sein. Damit ist gemeint, dass eine Anpassung des Verhaltens erfolgt, wenn eine Verhaltensweise nicht zum Erfolg führt. Es wird dann etwas Anderes versucht. So lässt sich zum Beispiel beobachten, dass sich Raupen hin- und herschütteln, wenn auf ihnen eine Milbe krabbelt, um sie abzuwerfen. Wenn dies nicht klappt, können sie sich umdrehen, die Milbe mit dem Mund packen und wegschleudern. Das Verhalten wird also nach dem Scheitern einer Verhaltensweise angepasst.

Zurück zu Nelsons Ausführungen:

Nelson: Ethik

Wir sehen hier noch einmal, mit welcher Konsequenz Nelson seine Gerechtigkeitsperspektive einnimmt. Er fordert uns dazu auf, uns in die Lage der Tiere zu versetzen, um uns zu fragen, ob wir dann mit dem Umgang von Menschen mit Tieren einverstanden wären. Die Antwort lautet offenkundig: Nein.

Was Nelson mit dieser kryptisch wirkenden Formulierung „numerischer Unterschied“ meint, schauen wir uns später noch an. Zuerst weiter im Text:

Nelson: Ethik

Es ist offensichtlich, dass Nelson Tieren ohne zu zögern ein Interesse am Leben zuspricht. Erinnern wir uns daran, was Dieter Birnbacher vorhin zu Nelson sagte. Nelson hätte angeblich so argumentiert:

  1. Alle Wesen mit Interessen haben einen Anspruch auf Berücksichtigung ihrer Interessen.
  2. Von den außermenschlichen Naturwesen haben nur Tiere Interessen.
  3. Alle Tiere haben Interessen.
  4. Alle Tiere haben – als Subjekte von Interessen – das Recht, nicht getötet zu werden.

Wir können nun verstehen, warum einer der namhaftesten Ethiker Deutschlands Nelson hier falsch darstellt. Nelson spricht nicht davon, dass Tiere einfach so ein Recht darauf haben, nicht getötet zu werden, sondern Nelson sagt: Tiere haben ein Interesse am Leben, also darf dieses Interesse nicht einfach verletzt werden, sodass ein Recht auf Nicht-Tötung folgt.

Nelson begründet jedoch nicht weiter, warum ein Tier ein Interesse am Leben haben sollte. Unsere bisherige Betrachtung gibt uns jedoch eine gute Basis dafür, zu verstehen, warum Nelson Tieren wohl ein Interesse am Leben zusprach.

Bedenken wir, dass Nelson das beobachtbare Verhalten ins Zentrum rückt und wohlwollend ernst nimmt, so lässt sich festhalten, dass Tiere durch ihr Verhalten zeigen, dass sie leben, dass sie nicht sterben wollen. Sie meiden Gefahrensituationen, sie versuchen, sich aus lebensbedrohlichen Situationen zu befreien, zu entkommen – und sie nehmen dafür sogar Schmerzen in Kauf.

Es sollte nun offensichtlich sein, warum die hier vorgestellte Interpretation Nelsons Werk gerechter werden dürfte als die bisherigen Darstellungen seiner Tierethik.

Weiter im Text:

Nelson: Ethik

Nelson: Ethik

Es folgt nun eine Stelle, die verdeutlicht, dass die Tierethik die Interessen von Menschen nicht einfach ignorieren darf. Nelson nimmt die Gerechtigkeitsperspektive so konsequent ein, dass er diesen Punkt ausdrücklich hervorhebt, denn sowohl Mensch als auch Tier verdienen Gerechtigkeit:

Nelson: Ethik

Nelson: Ethik

Es folgt nun ein kurzer Abschnitt, dessen Interpretation hier nicht erfolgen kann. Es sind nur 5 bzw. 6 Sätze, danach geht es ohne weitere Erläuterung nachvollziehbar weiter. Nelson begründet dann, warum das menschliche Interesse am Leben keineswegs immer schwerer wiegt als das tierliche Interesse am Leben:

Nelson: Ethik

Nelson: Ethik

Nelson: Ethik

Das war nun also der kurze Haupttext, den Nelson zur Tierethik hinterlassen hat, der seit einigen Jahren vermehrt wiederentdeckt wird und Nelson zu den Klassikern der Tierethik macht.

Offen blieb allerdings die Frage, wie genau nach Nelson die geforderte Interessen-Abwägung funktionieren sollte. Das ist der letzte Punkt, den wir uns nun noch angucken.

Es folgen drei kurze Auszüge, [8, 9] danach die Erklärung:

Nelson: Ethik

Nelson: Ethik

Nelson: Ethik

Was Nelson sich unter einer Abwägung vorstellt, hängt mit dem Absehen von der numerischen Verschiedenheit bzw. von dem numerischen Unterschied ab. Das klingt auch nach diesen drei Auszügen noch immer kryptisch, also formulieren wir es mal um:

Nelson möchte, dass wir von dem Unterschied zwischen uns und anderen absehen. Wir sollen bei der Abwägung nicht mit „ich“ und „die anderen“ operieren, sondern wir sollen die von der möglichen Handlung berührten Interessen erfassen und uns vorstellen, dass sie quasi alle gleichzeitig unsere eigenen wären. Ein Beispiel kann verdeutlichen, was Nelson meinte:

Wenn es zu entscheiden gilt, ob einem Hund ein günstigerer einfarbiger oder ein teurer gemusterter Keramikwassernapf gekauft werden sollte, sind von der Entscheidung nach Nelson zwei Personen betroffen. Der Hundebesitzer hat das Interesse, etwas Geld zu sparen, da am Ende des Geldes noch recht viel Monat übrig ist, sodass er eine Präferenz für den günstigeren Napf hat. Der Versuch, sich in den Hund hineinzuversetzen, führt schnell zu einem Ergebnis: Dem Hund ist es höchstwahrscheinlich völlig egal, wie sein Napf aussieht. Das Herrchen kann nun beide ‚Haltungen‘ gedanklich in sich vereinen und empfindet einmal den Wunsch, Geld zu sparen, und einmal Gleichgültigkeit. Er kann den günstigeren Napf kaufen, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben.

Das ist das Gedankenexperiment, das Nelson uns vorschlägt, um Gerechtigkeit zu gewährleisten. Wir sollen uns die Interessen anderer als unsere eigenen Vorstellen und dann prüfen, welche Interessen für uns als vorzugswürdig erscheinen.

Führt man dieses Gedankenexperiment durch, erhellt sehr schnell, dass wir den Genuss eines Rinder-Burgers für weniger wichtig halten würden als es zu vermeiden, die dafür notwendigen Schritte zu erdulden.

Und auf der Basis dieser Interpretation ist nun auch nachzuvollziehen, warum eingangs betont wurde, dass das Handbuch Tierethik etwas Fragwürdiges behauptet, wenn es Singer zuschreibt, das Prinzip der gleichen und speziesunabhängigen Interessenabwägung in den Diskurs eingeführt zu haben. Wir finden dieses Prinzip schon bei Nelson Jahrzehnte früher sauber ausformuliert vor.

Fazit

Mit diesen Worten können wir die Einführung in Nelsons Tierethik und die Betrachtung des Interessenbegriffs beenden und nochmal kurz die Ergebnisse zusammenfassen:

Leonard Nelsons Tierethik setzt beim beobachtbaren Verhalten an, weswegen sie Probleme anderer Ansätze, die bei der Frage nach der Empfindungsfähigkeit, bei Lust und Unlust ansetzen, zunächst vermeiden kann. Sie wird insofern einer Gerechtigkeitsperspektive und einem Wohlwollensgrundsatz gerechter, da sie das Sicherste an den Anfang stellt – nämlich das beobachtbare Verhalten. Somit entspricht sie auch eher unserem Umgang mit Haustieren oder zum Beispiel von Säuglingen, bei denen wir auch erst einmal das beobachtbare Verhalten ernst nehmen und uns an ihm orientieren. Wir fragen uns bei einem schreienden Säugling nicht erst, was wirklich in seinem Kopf vor sich geht, sondern wir werten das Verhalten als ausreichenden Hinweis darauf, dass etwas nicht stimmt. Und wir wissen bei unseren Haustieren keineswegs immer, was sie genau gerade fühlen, was in ihnen vor sich geht, aber wir verstehen anhand ihres Verhaltens, ob sie etwas wollen oder nicht wollen. Auch Nelsons niedrigschwellige Zusprechung des Lebensinteresseres entspricht viel eher dem, wie wir sowohl Säuglingen oder Kleinkindern als auch unseren Haustieren begegnen. Eine Tierethik, die so ansetzt, ist insofern erst einmal konsistenter, auch wenn sie deswegen nicht schon richtig liegt.

Aspekte wie Empfindungsfähigkeit, Lust und Unlust, Wünsche für die Zukunft, die Frage nach dem bewussten Lebensinteresse, nach der Anatomie usw. werden durch Nelsons Ansatz jedoch nicht automatisch bedeutungslos. Sie werden lediglich aufgrund der Unzuverlässigkeit und den damit verbundenen Problemen zu Abwägungshilfen herabgestuft. Sie sind nicht mehr der Startpunkt ethischer Betrachtungen, sondern Hilfsmittel, die man in Konfliktfällen heranziehen kann.

Quellen

  1. Johann S. Ach, Interessen, in: Ders. Und Dagmar Borchers, Handbuch Tierethik. Grundlagen – Kontexte – Perspektiven, Stuttgart 2018, S. 41-44. 

  2. Peter Singer, Praktische Ethik, Stuttgart 1994. 

  3. Thomas Nagel, What is it like to be a bat? / Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?, hrsg. von Ulrich Diehl, Stuttgart 2016. 

  4. Thomas Meyer, Leonard Nelson, in: Metzler Philosophen-Lexikon, hrsg. von Bernd Lutz, Stuttgart 2015, S. 502-504. 

  5. Urs Müller, Leonard Nelson, vergessener Tierrechtler, abzurufen unter: https://tier-im-fokus.ch/mensch_und_tier/leonard_nelson 

  6. Leonard Nelson, Gesammelte Werke, hrsh. Von Paul Bernays et al., Hamburg 1972, Band 9. 

  7. Leonard Nelson, Gesammelte Werke, hrsh. Von Paul Bernays et al., Hamburg 1976, Band 6. 

  8. Leonard Nelson, Gesammelte Werke, hrsh. Von Paul Bernays et al., Hamburg 1970, Band 5.  2 3 4 5 6

  9. Leonard Nelson, Gesammelte Werke, hrsh. Von Paul Bernays et al., Hamburg 1972, Band 4.  2 3

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