Spezieszugehörigkeit als Antwort auf das Argument der "menschlichen Grenzfälle"

Tierethik & Veganismus · November 29, 2021

Einleitung

Ich hatte mich am Wochenende ausführlicher mit dem Argument der „menschlichen Grenzfälle“ beschäftigt. Dieses Argument fragt nach der ethisch relevanten Eigenschaft, die Menschen generell von anderen Tieren trennt, sodass eine grundsätzliche Andersbehandlung von Menschen statthaft wäre. Ich bekam mehrere Rückmeldungen, dass es immer wieder vorkommt, dass das bloße Mensch-Sein, also die Spezieszugehörgkeit, vom Gegenüber als befriedigende Auflösung wahrgenommen wird. Eine Antwort, mit der sich anscheinend viele in der veganen Szene schwertun, also gehen wir diesen klassischen antiveganen Einwand mal kurz durch.

1. Das Mensch-Sein an sich ist keine ethisch relevante Eigenschaft.

Das erste Grundgebrechen dieser Antwort ist, dass sie keine ethisch relevante Eigenschaft benennt. Ich hatte das Ganze mal so zusammengefasst:

„In der Aufklärungspraxis zeigt sich, dass viele Gesprächspartner unreflektiert schon das bloße Mensch-Sein, also die Spezieszugehörigkeit für ein ausreichendes Kriterium halten, um eine harte Mensch-Tier-Grenze ziehen zu können. Dabei kann ein einfacher Test zuverlässig aufzeigen, dass wir uns keineswegs aufgrund unserer Spezies ethischen Schutzwert zusprechen. Es reicht, das Gegenüber beispielsweise darum zu bitten, sich in folgende Situation zu versetzen: Aufgrund einer technischen Panne hat sich der Feierabend einer Büroangestellten bis tief in die Nacht verzögert, sodass der Weg nach Hause anders als sonst durch menschenleere Straßen und einen um diese Zeit verlassenen Park führt. Im Zentrum des Parks passiert, was passieren musste: Hinter einigen am Wegrand stehenden Sträuchern lauerte ein vermummter Mann mit einem Messer, der nun seine Chance nutzen möchte, sich unter der Androhung von Gewalt zu bereichern. Ausgerechnet an diesem Tag befindet sich in ihrem Portemonnaie jedoch nur noch das magere Wechselgeld des letzten Einkaufs. Ein Umstand, der die Situation nun völlig eskalieren zu lassen droht. Der Räuber brüllt sie an: ‚Du hast jetzt 30 Sekunden, mir einen guten Grund dafür zu geben, warum ich jetzt nicht einfach auf dich einstechen sollte!‘ – Was würde die Frau wohl sagen? Welche Gründe würde man selbst in so einer Situation anführen?

Die Antworten auf diese Fragen fallen erfahrungsgemäß sehr unterschiedlich aus: Man würde einfach nur flehen, darum betteln, dass einem nichts getan wird. Man würde sagen, dass man nicht sterben oder leiden will, dass man ein Kind, dass man schreckliche Angst hat, dass man ihn erwischen wird und er sich sein Leben ruinieren würde, … Eine Antwort wird man hingegen nicht bekommen: ‚Weil ich ein Mensch bin.‘
Menschen wollen, wenn sie ehrlich darüber nachdenken, nicht dafür fair berücksichtigt oder – im schlimmsten Fall – verschont werden, dass sie Menschen sind. Das Mensch-Sein ist jedoch mit Eigenschaften verbunden, die ihnen etwas bedeuten: Menschen haben Interessen, deren Durchkreuzung als unangenehm empfunden wird, sie haben Bedürfnisse, die befriedigt werden müssen, sie können leiden, weswegen sie ein Interesse daran haben, Leid zu vermeiden – kurz: Menschen liegt aufgrund der Eigenschaften etwas an einem fairen und schonenden Umgang, die auch bei anderen Tieren vorhanden sind, auch wenn der Umfang oder die Ausprägung nicht immer identisch ist.“

Das hier beschriebene Szenario lässt sich natürlich beliebig abwandeln, gegen andere Szenarien ersetzen usw. Es geht lediglich darum, das Gegenüber mit einer lebensbedrohlichen oder zumindest potenziell sehr schmerzhaften/leidvollen Situation zu konfrontieren, um zu belegen, dass es nicht das Mensch-Sein ist, was dem Gegenüber als bedeutsam erscheint.
Es ist daher auch ratsam, eine solche Frage entweder an den Anfang eines Gespräches, das erwartbar in diese Richtung gehen wird, zu stellen oder diese Frage ein paar Tage später ganz unschuldig ohne diesen Kontext aufzuwerfen, damit die Person nicht schon ahnt, worauf das Ganze abzielt und bewusst eine unredliche Antwort gibt, um nichts einräumen zu müssen.

2. Diese Auflösung des Konsistenztests ist zirkulärer Unsinn.

Das Argument der „menschlichen Grenzfälle“ fordert dazu heraus, den Sonderstatus des Menschen zu begründen. Die Frage lautet:
„Der Mensch nimmt eine ethische Sonderstellung ein, weil der Mensch X ist/hat/kann. Was ist X?
Die Antwort „Spezieszugehörigkeit“ lautet nun also:
„Der Mensch nimmt eine ethische Sonderstellung ein, weil der Mensch ein Mensch ist.“
Wir würden so eine Antwort in keinem anderen Kontext akzeptieren; wir würden überall sonst sofort sehen, dass eine solche Antwort nichts beantwortet.
Warum ist der Ball rot?
Der Ball ist rot, weil der Ball rot ist.
Warum denkst du, dass man Frauen schlagen darf?
Man darf Frauen schlagen, weil Frauen Frauen sind.
Was hier präsentiert wird, ist aufgrund der blanken Sinnlosigkeit nichts weiter als Willkür. Wenn das eine akzeptable Antwort wäre, hätte man auch nichts mehr gegen Rassisten in der Hand:
Warum denkst du, dass man Schwarze fundamental schlechter behandeln darf?
Weil Schwarze Schwarze sind.
Absurd.

3. Wir würden diese Auflösung des Konsistenztests in der Opferrolle nicht akzeptieren.

Eine weitere Möglichkeit, die Fragwürdigkeit dieser Antwort zu verdeutlichen, kann ein anderes simples Gedankenexperiment sein: Man versetze sein Gegenüber gedanklich in die Situation, dass die Menschheit von einer völlig überlegenen anderen Spezies (meinetwegen auch von Außerirdischen) unterworfen wird. Sie hat keine Not, uns einzusperren, zu vermehren, auszubeuten und zu schlachten, da sie auch anders überleben könnte, aber sie tut es nicht, weil Menschen nun einmal keine Mitglieder der Spezies X sind. Würden wir das für einen guten Grund halten, um uns so etwas einfach anzutun? Wenn die Person das redlicherweise verneint und ihr Verhalten nicht ändert, nutzt sie schlicht nur ihre glückliche Lage aus. Es ist dann am Ende nicht mehr als das Recht des Stärkeren – ein Grundsatz, den wir sonst zu Recht aus unserer Alltagsmoral und Ethik verbannt haben. Was kann das Tier dafür, der falschen Spezies anzugehören?
Alternativ besteht natürlich die Möglichkeit, das Gegenüber gedanklich in die Situation der ‚Nutztiere‘ zu versetzen, aber es ist zu vermuten, dass das viel zu oft dazu einlädt, von der Pointe des Gedankenexperiments abzulenken.

4. Menschen akzeptieren diese Logik schon heute bei vielen Tieren nicht.

In den Fällen, in denen das Gegenüber ein Haustier besitzt, an dem es wirklich hängt, kann darauf aufmerksam gemacht werden, dass es nach dieser Logik auch keinen Grund gibt, das geliebte Haustier anders als ‚Nutztiere‘ zu behandeln. Es würde dann nur indirekten Schutz genießen, weil ein Mensch unter der Tötung oder Quälerei leiden würde. Das ist eine Schlussfolgerung, die viele Haustierbesitzer empört zurückweisen, weil sie ihren Tieren eben doch direkten Schutzwert zusprechen. Ihre Haustiere verdienten für sich selbst, an sich, eine schonende, eine gerechte Behandlung.
Wo dies nicht der Fall ist, können Tiere herangezogen werden, die für gewöhnlich deutlich anders betrachtet werden: Affen, Elefanten, Delfine usw. Dürfen wir mit ihnen machen, was wir mit ‚Nutztieren‘ treiben, weil sie nun einmal keine Menschen sind?

5. Das Kriterium des bloßen Mensch-Seins hat weitere absurde Folgen.

Der Mensch ist das Ergebnis einer langen Evolution mit vielen Zwischenschritten. Wenn die Spezieszugehörigkeit an sich schon ein ausreichendes Kriterium wäre, dann müsste es auch in Ordnung sein, unsere Vorfahren wie ‚Nutztiere‘ zu behandeln, falls sie es irgendwo in Abgeschiedenheit, geographisch isoliert, geschafft hätten, bis heute zu überleben. Auch das ist eine Konsequenz, die im Normalfall dazu führen sollte, dass die Fragwürdigkeit dieser Auflösung dieses Konsistenztests offensichtlich wird. Das Gespräch kann dann wieder auf die Betrachtung ethisch tatsächlich relevanter Eigenschaften zurückgelenkt werden. Schädel unserer Vorfahren im Stammbaum (Dieser Ansatz geht auf den Youtuber „Vegan Footsoldier“ zurück.)

Anmerkung zur Praxis

Es ist nicht pauschal möglich, anzugeben, welcher dieser Ansätze in der Praxis am besten funktionieren wird. Die hier gewählte Reihenfolge spiegelt also keine Effektivität oder persönliche Präferenz wider. Es ist ratsam, von Fall zu Fall zu unterscheiden, auf welche Option man zurückgreifen möchte. In manchen Situationen wird es ohnehin darauf hinauslaufen, dass man gleich 2 oder 3 Ansätze versuchen muss, bevor es möglich ist, diese unstatthafte Auflösung einvernehmlich zu verwerfen. Und natürlich gibt es viel zu viele Fälle, in denen nichts funktioniert, weil keine Bereitschaft vorhanden ist, das eigene Handeln zu hinterfragen.

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